«Wir sind sauer» - Italiens Schüler haben genug vom Distanzunterricht Von Johannes Neudecker, dpa

Wegen Corona haben viele Schüler in Italien digitalen Unterricht zu
Hause. Keine Freunde mehr treffen, nicht mehr zusammen im
Klassenzimmer sitzen. Viele Schüler sind damit unzufrieden und
verlegen ihr Klassenzimmer auf die Straße.

Rom (dpa) - Wenn Valeria morgens aufwacht, blüht ihr wieder ein
langer Tag zu Hause vor dem Computer. Die Schülerin aus Rom hängt
täglich gut sechs Stunden vor dem Laptop, denn da findet seit Wochen
ihr Unterricht statt. Diese von der Corona-Pandemie hervorgerufene
Art des Unterrichts regt junge Leute in Italien auf.

Im März hatte die Mitte-Links-Regierung Italiens die Schulen im Zuge
der Pandemie geschlossen und erst Mitte September wieder geöffnet.
Nach wieder gestiegenen Fallzahlen im Oktober wurde das Land mit rund
60 Millionen Einwohnern allerdings in drei Risiko-Zonen eingeteilt.

Seitdem gilt für Schüler in den höheren Jahrgangsstufen und Studenten

an Universitäten in allen Risiko-Zonen wieder Unterricht auf Distanz.
Je nach Region dürfen nur Kinder bis zu einem Alter von 10 bis 13
Jahren noch zur Schule gehen.

Valeria und ihre Mitschüler frustriert das. Deshalb haben die
17-Jährige und ein gutes Dutzend anderer den Distanzunterricht vor
ihr Gymnasium, das Liceo Pilo Albertelli unweit vom Kolosseum,
verlagert. An die Hauswand haben sie ein rotes Banner mit der
Aufschrift «La scuola siamo noi» (Die Schule sind wir) gehängt.

«Wir sind sauer. Deshalb sind wir hier», sagt Valeria, während sie in

warmer Jacke im Schneidersitz und mit ihrem Laptop auf den Beinen auf
der kalten Straße sitzt. Die Regierung solle sie so ausstatten, dass
sie wieder sicheren Unterricht in der Schule haben könne.

Das Prinzip des digitalen Unterrichts scheitert teils schon an der
Ausstattung. Zahlen der italienischen Statistikbehörde aus dem
vergangenen Jahr zufolge hatten zwölf Prozent der Kinder im Alter
zwischen 6 und 17 Jahren keinen Computer oder kein Tablet.

Daniele, ein anderer Schüler, der vor dem Liceo protestiert, erzählt,
dass in seiner Klasse manche den Unterricht auf dem Handy verfolgten.
Andere müssten ein Gerät mit ihren Geschwistern teilen, sagt der
18-Jährige. Valeria hat nach eigener Aussage oft Kopfschmerzen vom
langen Starren auf den Bildschirm und Augenweh.

Die Situation, zu Hause zu lernen, hat dem Psychiater Massimo Di
Giannantonio zufolge auch Auswirkungen auf die mentale Verfassung und
persönliche Entwicklung der Schüler. Die Verwirrung, zwischen dem,
was real und dem, das virtuell ist, nehme für die ohnehin schon von
Technik und Medien geprägten Jugendlichen zu. Es werde angenommen,
dass sich die Zeit des Selbstständigwerdens und der Entwicklung des
Verantwortungsbewusstseins dadurch verlangsamen könnte.

Auch in anderen Städten Italiens haben Schüler das Home-Schooling aus
den eigenen vier Wänden auf die Straße verlegt. In Turin brachte die
12-jährige Anita den Stein für die Protest-Bewegung der Schüler ins
Rollen, die bald im ganzen Land aufkeimen sollte. «Ich will nicht
berühmt werden, sondern - mehr als alles andere - möchte ich wieder
in die Schule gehen», sagte sie der Zeitung «La Repubblica».

Mittlerweile sehen auch Regierungsberater Grund zum Handeln. Agostino
Miozzo, der Beauftragte für zivilen Schutz, der die Kommission der
wissenschaftlichen Berater der Regierung koordiniert, sah in den
geschlossenen Schulen einen Notzustand, wie er im Interview mit der
Zeitung «Corriere della Sera» sagte. Die Schüler müssten wieder
zurück in die Schulen. Viele Politiker hätten sich dafür entschieden,

sie zu opfern, um ein Zeichen effizienter Reaktion gegen den Notfall
zu setzen, merkte er weiter an.

Italiens Schulministerin Lucia Azzolina zeigte sich in einem in der
Zeitung «La Stampa» abgedruckten Brief solidarisch mit den
Schulkindern. «Es dürft nicht Ihr sein, die den höchsten Preis für

diesen Notfall bezahlen», schrieb die Ministerin. Sie werde weiter
dafür arbeiten, dass Schulen, die digitalen Unterricht anbieten, so
bald wie möglich wieder geöffnet werden.

Wann Valeria und ihre Freunde wieder in die Schule dürfen, wissen sie
nicht. Im März habe man ihnen noch gesagt, der Distanzunterricht sei
eine Notlösung, im Sommer habe es wieder Hoffnung auf eine Rückkehr
gegeben. Doch Valeria sagt, sie habe gewusst, dass es wieder vor dem
Computer zu Hause ende.