Weiße Flecken in der Luftrettung sollen geschlossen werden Von Julia Giertz und Marijan Murat , dpa

Irgendwo auf dem Land mit dem Auto zu verunglücken und lange auf den
Notarzt warten zu müssen - das ist ein Alptraum. Solch schlimme
Erlebnisse soll eine Neuordnung der Luftrettung verhindern helfen.

Stuttgart (dpa/lsw) - Sie sind bei schweren Autounfällen zur Stelle,
bringen Notfallpatienten nach der Erstversorgung zu einer
Spezialklinik oder verlegen Covid-19-Kranke: Notärzte in der
Luftrettung sind zunehmend unverzichtbar und in der Corona-Krise
besonders gefragt. Anästhesistin Gerhild Gruner ist drei bis vier Mal
im Monat mit Christoph 111 vom Baden-Airport aus unterwegs.

Im Frühjahr transportierten sie und ihr Team im Helikopter der DRF
Luftrettung viele schwer kranke Covid-19-Patienten aus Frankreich zu
deutschen Kliniken und nach erfolgreicher Versorgung wieder zurück.
«Seit zwei Wochen nehmen Covid-Transporte wieder zu», hat die
Intensiv- und Notfallmedizinerin beobachtet.

Die 41-Jährige lebt in Frankreich und kennt das dortige System der
Luftrettung. Sie meint: «Im Vergleich zu Frankreich leben wir hier im
Luxus.» Dem würde der Experte Stephan Prückner zumindest für
Baden-Württemberg nicht zustimmen. Aus Sicht des Chefs des Instituts
für Notfallmedizin und Medizinmanagement (INM) lässt die Organisation
der Luftrettung durch das Land zu wünschen übrig. «Es gibt weiße
Flecken in der Versorgung - das ist nur Schulnote drei.»

Sein Institut hat auf Grundlage einer vom Innenministerium in Auftrag
gegebenen Analyse Vorschläge geliefert, damit Notfallpatienten in
alle Regionen des Landes rasch und gut versorgt werden. Das
Ministerium von Thomas Strobl (CDU) will die Empfehlungen umsetzen
und hat dafür bereits grünes Licht von den Krankenkassen, den
Kostenträgern im Rettungswesen, bekommen. «Wir gehen derzeit davon
aus, dass abhängig vom jeweiligen Standort die Umsetzung der
Empfehlungen einen Zeitraum von zwei bis fünf Jahren in Anspruch
nehmen wird», erläutert ein Sprecher Strobls.

Hintergrund der Untersuchung des Münchner Instituts sind unter
anderem Klinikschließungen. «Insgesamt kam es dadurch vor allem in
ländlich strukturierten Regionen zu einer Ausdünnung der
notfallmedizinischen Versorgungseinrichtungen», heißt es dort.
Deshalb müssen mehr Notfallpatienten in entfernte Kliniken und
Patienten von kleinen Krankenhäusern in Schwerpunktklinken gebracht
werden. Kliniken wünschen sich eine zentrale, gleichmäßige Verteilung

von Covid-19-Patienten - wofür die Helikopter infrage kämen.

Die Zahl der Covid-19-Einsätze der DRF Luftrettung lag im ersten
Halbjahr 2020 deutschlandweit bei 300. Allein in Baden-Württemberg
waren die Luftretter der DRF im vergangenen Jahr 9210 mal im Einsatz;
vor fünf Jahren waren sie noch 7700 mal unterwegs.

Helikopter haben den Vorteil, dass sie längere Strecken schnell
überwinden können. Bei Notfallpatienten können Minuten über Leben u
nd
Tod entscheiden. Ziel der Neuordnung ist, dass alle potenziellen
Notfallorte tagsüber innerhalb von 20 Minuten und nachts innerhalb
von 30 Minuten nach Alarmierung via Luft erreicht werden können. Für
die Diagnosen wie Herzinfarkt, Schlaganfall und Schädel-Hirn-Trauma,
wird eine Frist von bis zu 60 Minuten bis zum Erreichen einer
geeigneten Versorgungseinrichtung empfohlen. Solche Zeiten werden
laut dem Gutachten durch Rettungswagen im Südwesten nicht immer
erreicht, insbesondere bei der Diagnose Polytrauma. «In diesem
Kontext erlangt die Luftrettung eine zunehmend wichtige Stellung im
Gesamtsystem Notfallrettung», so die Schlussfolgerung des Instituts.

Schwächen der Luftrettung sehen die Wissenschaftler im nördlichen
Baden-Württemberg mit Odenwald und Hohenlohe und im nördlichen
Schwarzwald samt Ortenaukreis. Für diese Regionen sollen neue
Standorte in den Bereichen Osterburken beziehungsweise Lahr gefunden
werden. Zu Standortverlagerungen wird auf der südlichen Schwäbischen
Alb, in den Kreisen Lörrach und Waldshut sowie im nördlichen
Schwarzwald und in der nördlichen Bodenseeregion geraten. Auch die
nächtliche Versorgung soll optimiert werden: Christoph 51 in
Ludwigsburg soll zusätzlich zum Nachthubschrauber in
Villingen-Schwenningen rund um die Uhr dienstbereit sein. Im
Vergleich: In Bayern gibt es schon drei davon. Insgesamt soll die
Zahl der Hubschrauber im Südwesten von acht auf zehn erhöht werden.

Notarzt Harald Genzwürker von der Klinik für Anästhesiologie und
Intensivmedizin der Neckar-Odenwald-Kliniken würde sich über einen
neuen Standort in Osterburken (Neckar-Odenwald-Kreis) sehr freuen.
«Wir haben weiße Flecken, wo alle gleich weit entfernt sind», sagt
der Chefarzt und Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Südwestdeutscher
Notärzte. In seiner Klinik komme es vor, dass Patienten etwa an die
Heidelberger Uniklinik bei Herzinfarkt- oder Schlaganfall verlegt
werden müssten. Notärztin Gruner brachte kürzlich einen Mann mit
einer Handverletzung in gut 22 Minuten von einer Pforzheimer Klinik
in eine auf Handchirugie spezialisierte Klinik 80 Kilometer entfernt.

Genzwürker gibt mit Blick auf die Neuordnung aber zu bedenken, dass
Verlagerungen an neue Standorte nicht immer Begeisterung bei der
Bevölkerung auslösen. «Es gibt Kritik, wenn für den Landeplatz Bä
ume
gefällt oder Tankstationen installiert werden.» Auch Beschwerden über

Lärm seien nicht selten. «Die Akzeptanz für die Luftrettung ist gro
ß,
aber die Leute regen sich auf über den Einsatz des Hubschraubers
nebenan - anstatt sich zu freuen, dass sie nicht selber drin liegen.»