Speist sich der Corona-Protest aus Frömmigkeit und Glaube? Von Marco Krefting, dpa

Es ist die Gretchenfrage in Goethes «Faust»: Wie hast du's mit der
Religion? Man kann sie auch mehr als 200 Jahre nach Veröffentlichung
der Tragödie stellen: bei den Protesten gegen die Corona-Politik.
Denn zumindest gibt es Ähnlichkeiten mit manchen Glaubensrichtungen.

Stuttgart (dpa) - Bei Donald Trump konnte man es im US-Wahlkampf
sehen: Konservative, evangelikale Christen jubeln ihm frenetisch zu,
stehen hinter seiner Politik, die nicht immer auf Fakten fußt. Doch
so fern ist der Bezug zwischen Glaube und Protest, religiösen Motiven
und Aufbegehren gegen die Staatsmacht nicht. Auch Gegner der hiesigen
Corona-Politik gehen mit einem Kreuz in der Hand auf die Straße.

Der Antisemitismusbeauftragte der Landesregierung Baden-Württembergs,
Michael Blume, analysierte die in Stuttgart gegründete Bewegung
«Querdenken» in der «Süddeutschen Zeitung» jüngst unter anderem
über
das Erbe konservativer evangelikaler Bewegungen, allen voran des
Pietismus. Die Bibeltreuen hätten mit manchen «Querdenkern» den
Glauben gemeinsam, «dass man ewige Weisheiten erkannt hat. Und die
muss man gegen die böse Welt verteidigen». Daraus könne eine duale
Weltsicht resultieren, in der es keinen Platz für Zwischentöne gibt.

Liegen die Wurzeln für den Protest wirklich in der evangelischen
Frömmigkeitsbewegung, die besonders in Württemberg viele Anhänger
hat? Der Pietismus (von lateinisch «pietas» - Frömmigkeit) begann im

17. Jahrhundert als Rückbesinnung auf die Anliegen der Reformation.
Wichtig sind der Bewegung ein charismatisches, missionarisches
Glaubensbekenntnis, die persönliche Verantwortung des Einzelnen vor
Gott und die lebendige Umsetzung des Glaubens in die Praxis.

Kritiker halten Pietisten für christliche Fundamentalisten, die
lieber an vermeintlich eindeutigen Wahrheiten der Bibel festhalten,
als sich mit der modernen Welt auseinanderzusetzen. Tatsächlich
machen viele Pietisten keinen Hehl daraus, dass sie Feministinnen,
homosexuelle Pfarrer und Teile der wissenschaftlichen Theologie
ablehnen. Die heutige Kirche sehen sie vom Pluralismus zerrissen.

Doch so einfach ist es nicht. Angesichts der Vielschichtigkeit der
pietistischen Bewegungen - heute wie früher - sei es schlichtweg
verfehlt, hier historische Kausalitäten zu behaupten, erklärt der
Geschäftsführende Direktor des Interdisziplinären Zentrums für
Pietismusforschung an der Uni Halle-Wittenberg, Friedemann Stengel.

In politischen Protestbewegungen fänden sich religiöse Denkfiguren,
so Stengel. Immer wieder würden auch Argumentationen benutzt, die für
biblisch gehalten würden. Das sei nicht Neues, könne aber nicht auf
eine bestimmte theologisch-kirchliche Substanz zurückgeführt werden.

Das sei auch bei Pegida aufgetaucht, nennt Stengel ein Beispiel, als
neonleuchtende Kreuze gegen Flüchtlinge und Flüchtlingspolitik
getragen wurden. «Dafür kann man sich im Grunde nur ebenso schämen
wie für Leute, die Sophie-Scholl-T-Shirts auf
Anti-Corona-Demonstrationen tragen oder die Verfolgung von Jüdinnen
und Juden im NS mit ihrer frei erfundenen Situation parallelisieren.»

Detlef Pollack vom Exzellenzcluster Religion und Politik an der Uni
Münster sieht strukturelle Analogien zwischen Verschwörungstheorien
sowie pietistischen und evangelikalen Denkmustern: Unter anderem
nennt er die Skepsis gegenüber staatlichen Autoritäten, mangelnde
Bereitschaft zur Selbstrelativierung und zur Akzeptanz des
pluralistischen Diskurses sowie die Vermutung, hinter jeglichem
Geschehen stünden unbekannte Mächte oder ein verborgener Sinn.

Das sollte aber nicht dazu verführen, Verschwörungsglauben und
Evangelikalismus gleichzusetzen, mahnt Pollack und führt aus:
«Evangelikale akzeptieren eine von ihnen unabhängige Grundlage der
Erkenntnis, sei es die Heilige Schrift oder eine von Gott gegebene
Erleuchtung. Verschwörungstheoretiker hingegen neigen dazu, sich in
ihren fantastischen Denkgebäuden zu verschanzen.»

Auch der Religionswissenschaftler Blume erklärt die Corona-Proteste
nicht nur mit Glaube und Frömmigkeit. Dass gerade aus
Baden-Württemberg viele der Demonstranten kommen, könnte womöglich
auch mit der politischen Randstellung des Bundeslands erklärt werden.
Anders als etwa Bayern stellt Baden-Württemberg keinen einzigen
Bundesminister. Zum Teil liege der Protest auch an der grundlegenden
Bereitschaft in Schwaben, Autoritäten gegenüber misstrauisch zu
sein. 

Die baden-württembergischen Staatsrätin für Zivilgesellschaft und
Bürgerbeteiligung, Gisela Erler (Grüne), hatte jüngst ebenfalls mit
Blick auf die Corona-Proteste auf die Historie verwiesen: «Das
sogenannte Wutbürgertum hat eine starke Tradition. Baden-Württemberg
hat schlicht eine aufmüpfige Tradition.» Nicht zuletzt beim
umstrittenen Bahnprojekt Stuttgart 21 war das ersichtlich.

Württembergs evangelischer Landesbischof Frank Otfried July weist
einen Zusammenhang zwischen «Querdenkern» und Evangelikalen oder
Pietisten zurück: «Bei den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen
sammeln sich Menschen mit extrem unterschiedlichen Weltanschauungen -
eine Mischung aus Anhängern von Verschwörungsmythen, Rechtsextremen,
Impfgegnerinnen und immer wieder auch Menschen, die ihren Protest mit
dem Glauben begründen.» In den Glaubensrichtungen einen Ursprung der
Bewegung zu sehen, hält July für falsch: «Der in Württemberg
verbreitete Pietismus ist nicht aggressiv oder gar gewalttätig.»

Und die «Querdenker» selbst? Aus Sicht von Initiator Michael Ballweg

repräsentieren sie den Querschnitt der Gesellschaft, dabei gehe es
nicht um religiöse Bräuche. «Ich halte mich an die zehn Gebote, weil

es ein Zusammenleben in Frieden und Achtung möglich macht», teilt
Ballweg mit. Auf «Querdenken»-Demos seien Menschen aller
Glaubensgemeinschaften. Sie eine das Interesse an «Frieden, Freiheit,
Wahrheit, Gerechtigkeit und Aufhebung der Grundrechteinschränkungen».
Eine mündige Bürgerschaft könne ihre Stimme in der Demokratie nicht
nur alle vier Jahre bei der Wahl erheben. Aus seiner Sicht können die
anderen nicht mit Kritik wegen politischen Versagens umgehen.