Babyboom in der Pandemie? Wie sich Corona auf Geburten auswirkt Von Gioia Forster, Christina Horsten und Carola Frentzen, dpa

Die Corona-Pandemie hat die Lebensplanung vieler Menschen verändert.
Einige haben Jobs verloren, andere das Studium aufgeschoben - und
viele ihre Kinder-Pläne geändert. Vor allem in Entwicklungsländern
gibt es viele ungeplante Schwangerschaften.

Nairobi/New York/Jakarta (dpa) - Im Lockdown schwanger sein? Während
des Corona-Chaos ein Baby zur Welt bringen? Viele Paare überlegen
sich genau, ob sie inmitten der Pandemie Familienzuwachs haben
möchten. Doch diese Wahl ist ein Luxus, den viele Frauen nicht haben
- vor allem in Entwicklungsländern wie Kenia und Indonesien. Dort
kommen wegen des Corona-Lockdowns Mädchen und Frauen schwer an
Verhütungsmittel, sind sexueller Gewalt ausgesetzt oder lassen sich
aus finanziellem Druck früher auf Sex und Ehe ein. Viele Experten
erwarten dort daher einen Babyboom der «Coronials» oder
«Pandennials» - aber zum Großteil einen ungewollten.

Noch ist es zu früh, um die Babys, die während der Corona-Pandemie
gezeugt wurden, zu zählen. In Industrieländern wird heftig
diskutiert, ob die Pandemie zu einem Anstieg oder Rückgang an
Geburten führen wird. Martin Bujard vom Bundesinstitut für
Bevölkerungsforschung glaubt, in Deutschland sei beides möglich. «E
s
gibt mehrere Faktoren, wie sich die Pandemie auf die Geburtenrate
auswirken könnte.» Gesundheitliche Sorgen und ökonomische Ängste
könnten demnach dazu führen, dass ein Kinderwunsch verschoben wird.
Es sei aber auch denkbar, dass für viele in der Corona-Zeit der Wert
der Familie steigt. «Ich halte es derzeit noch für offen, welcher
dieser Mechanismen eine größere Auswirkung haben wird.»

Über einen möglichen Babyboom will die UN-Kinderhilfsorganisation
Unicef in New York nicht spekulieren, hat aber schonmal eine
Gesamtprognose erstellt. 140 Millionen Babys würden 2020 wohl
insgesamt geboren werden, teilte Unicef mit, 113 Millionen davon nach
der offiziellen Erklärung des Corona-Ausbruchs zur Pandemie im März.

In Entwicklungsländern sind sich viele Experten einig: Dort wird es
einen Anstieg von Geburten geben. Denn die Corona-Lockdowns haben die
Möglichkeiten von Frauen und Mädchen, sich gegen eine Schwangerschaft

zu entscheiden, massiv beeinträchtigt.

Zum einem ist es viel schwieriger geworden, an Verhütungsmittel zu
kommen: Ausgangssperren, geschlossene Läden, Corona-Quarantäne und
unterbrochene Lieferketten haben den Zugang zu Kondomen und der Pille
erschwert. In Indonesien etwa sei die Zahl der Menschen, die sich
staatlich beraten ließen und kostenlose Verhütungsmittel benutzten,
im April und Mai im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie um zehn
Prozent gesunken, sagt Eni Gustina, stellvertretende Leiterin bei der
Nationalen Agentur für Familienplanung. Es werde erwartet, dass es
Anfang nächsten Jahres zwischen 375 000 und 500 000 mehr ungewollte
Schwangerschaften geben werde als vor Corona. Ihre Behörde habe
Hebammen persönliche Corona-Schutzausrüstung zur Verfügung gestellt,

damit sie wieder Verhütungsmittel in Kliniken verteilen könnten.

Hasto Wardoyo, Leiter des Nationalen Koordinierungsausschusses für
Familienplanung in Indonesien, hat ähnliche Befürchtungen. «Dies
betrifft die vielen Paare, die während der Pandemie die meiste Zeit
zu Hause verbringen und Sex haben, ohne zu verhüten.»

Außerdem sind Kondome, die Pille und Abtreibungen teuer. Viele
Menschen in Entwicklungsländern spüren die wirtschaftlichen
Konsequenzen der Pandemie mehr als die Pandemie selbst, etliche haben
ihre Jobs verloren oder deutlich weniger Einkommen. «Sie können nicht
zahlen» und würden daher nicht kommen, sagt Sophie Hodder, die
Leiterin von Marie Stopes in Kenia. Die Organisation bietet
Familienplanungs-Beratung, Gesundheitsversorgung nach Abtreibungen
und Schwangerschaftsbetreuung an. In deren kostenpflichtigen Kliniken
sei die Zahl der Kundinnen während der Corona-Pandemie um 30 Prozent
gesunken. «Uns macht es große Sorgen, dass die Frauen nicht kommen.»


Die Corona-Pandemie hat auch die Organisationen und Kliniken, die
Familienplanung anbieten, hart getroffen. Hodder erklärt, dass Marie
Stopes durch den Rückgang an Kunden weniger Einkommen gehabt habe.
Zugleich seien die Kosten in die Höhe geschossen, vor allem wegen
Ausgaben für Schutzausrüstung. Zudem seien wegen wirtschaftlicher
Probleme und dem Fokus auf die Corona-Pandemie Spendengelder im
Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit gesunken.

Hinter dem Babyboom steckt eine noch größere, düstere Entwicklung:
Während der Corona-Krise ist sexuelle Gewalt und Ausbeutung von
Mädchen und Frauen weltweit gestiegen. In Kenia würden auch in
normalen Zeiten Frauen mit Männern schlafen, um an etwas Geld etwa
für Binden zu kommen, sagt Nancy Okoth von der NGO Plan
International. Doch während der Corona-Pandemie, in der viele
Familien selbst die allerwichtigsten Grundbedürfnisse nicht decken
konnten, habe sogenannter transaktionaler Sex zugenommen. «Binden
kosten so viel wie zwei Kilogramm Maismehl, welche Mutter wird sich
entscheiden, die zu kaufen?», erklärt Okoth.

Das lag auch daran, dass der wohl sicherste Ort für Mädchen
geschlossen wurde: die Schule. In Kenia - wie in vielen anderen
afrikanischen Ländern - biete die Schule nicht nur Matheunterricht,
sondern auch Mentoren mit einem offenen Ohr, eine warme Mahlzeit,
Sexualaufklärung und eine Beschäftigung, erklärt Okoth. Doch in dem
ostafrikanischen Land sind die meisten Schulen bereits seit März
geschlossen. Viele Mädchen seien unbeaufsichtigt zuhause und Tätern
sexueller Gewalt oft schutzlos ausgeliefert, sagt Okoth. Zuhause zu
sein mache es für Mädchen und junge Frauen auch schwieriger, sich
Verhütungsmittel zu holen oder Beratung aufzusuchen, sagt Hodder.

«Wir wissen, dass die Hälfte aller Schwangerschaften ungewollt ist»,

sagt Hodder von Marie Stopes in Kenia. «Unsere Prognose ist, dass
diese zunehmen.» Doch eine noch größere Sorge ist, was das für die

Frauen bedeutet. «In sechs bis zwölf Monaten werden wir sehen, wie
viele Mädchen und Frauen durch unsichere Abtreibungen ums Leben
kamen, weil sie keinen Zugang zu Familienplanungs-Diensten hatten.»