Corona in Belgien: Dem «Tsunami» nur knapp entkommen Von Naveena Kottoor, dpa

Im Oktober noch drohte Belgien von einem «Corona-Tsunami» überwälti
gt
zu werden. Mit letzter Kraft und einem Lockdown schaffte das Land
zwar die Kehrtwende, ein unbeschwerter Winter ist dennoch nicht zu
erwarten.

Brüssel (dpa) - Belgien atmet auf, das Land hat die Corona-Kehrtwende
geschafft. Im Oktober noch waren die Infektionszahlen so sehr
explodiert, dass man Belgien in den Top 3 der am stärksten vom
Coronavirus betroffenen Länder in Europa wiederfand. Mehr als 20 000
Neuinfektionen wurden in der letzten Oktoberwoche an manchen Tagen
registriert, etwa so viele wie derzeit in Deutschland. Dabei hat
Belgien nur 11,5 Millionen Einwohner, Deutschland dagegen
83 Millionen.

Die Nerven lagen blank. Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke
warnte vor einem «Tsunami», es drohe der Kontrollverlust. Die
Regierung zog die Notbremse: Nach der Gastronomie mussten auch fast
alle Geschäfte außer Supermärkten schließen, Arbeit im Homeoffice
wurde verpflichtend eingeführt. Kontakte wurden stark eingeschränkt,
Mitglieder eines Haushaltes durften, ohne Abstandsregeln einhalten zu
müssen, nur noch eine einzige Person treffen, den sogenannten
«Knuffelcontact».

Die Strategie zeigte Wirkung. Mit einem täglichen Durchschnitt von
4353 registrierten Neuinfektionen in den letzten sieben Tagen
(Stand: Freitag) ist die Zahl der Neuerkrankungen deutlich niedriger
als im Oktober.

Könnte das belgische Beispiel nun Deutschland als Vorbild dienen, wo
kommende Woche entschieden werden soll, wie es mit den bestehenden
Corona-Maßnahmen weitergeht? Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier
zeigte sich am Donnerstag jedenfalls beeindruckt von den Erfolgen -
auch von denen in Frankreich und den Niederlanden. Den Rückgang der
Infektionszahlen führte er aber auch «auf die große Disziplin der
Bürgerinnen und Bürger in diesen Ländern» zurück.

Auch die Zahl der Toten mit nachgewiesener Corona-Infektion ist in
Belgien rückläufig. Dennoch führt das Land auch hier eine traurige
Statistik an: Der US-Universität Johns Hopkins (JHU) zufolge
verzeichnete Belgien im weltweiten Vergleich die meisten Corona-Toten
pro 100 000 Einwohner. Mehr als 15 000 Tote forderte die Pandemie
bislang. Zum Vergleich: In Deutschland sind es derzeit 13 630.

«Wir hätten früher reagieren müssen», sagt Professor Steven van
Gucht, Virologe und Leiter des staatlich-belgischen Gesundheitsamtes
Sciensano, der bereits im September Alarm geschlagen hatte. Aber es
sei schwierig gewesen, die belgische Öffentlichkeit von der
Dringlichkeit eines Lockdowns zu überzeugen. «Als Virologen haben wir
uns ziemlich einsam gefühlt.»

Auch jetzt warnt er vor einer zu schnellen Lockerung der Maßnahmen
zum Jahresende, auch in Deutschland: «Ich verstehe, dass die Menschen
sich nach einem schwierigen Jahr entspannen möchten». Aber eine
Lockerung der Kontaktbeschränkungen über Weihnachten und Neujahr
berge die Gefahr einer dritten Pandemie-Welle. Menschen, die sich
über das Weihnachtsfest infizierten, könnten wiederum andere an
Silvester mit dem Virus anstecken. Auch Skiurlaub steht der Virologe
eher kritisch gegenüber. Erfahrungen mit dem Grippevirus hätten
gezeigt, dass «sich treffen, küssen, tanzen» der ideale Nährboden f
ür
eine schnelle Verbreitung sei.

Auch wenn die Infektionszahlen deutlich zurückgehen, das belgische
Gesundheitssystem ächzt. In Teilen des Landes mussten Ärzte und
Krankenpfleger trotz Corona-Infektion zum Dienst antreten. «Ich
glaube, uns stehen schwierige Zeiten bevor», sagt Marei Schwall, eine
Krankenpflegerin in der Hotspot-Provinz Lüttich, die selbst auf einer
Corona-Station im Einsatz war.

«Das Krankenhaussystem wurde in den letzten Jahren
heruntergewirtschaftet», man fühle sich mit der Pandemie
«alleingelassen», sagt Schwall. Das Krankenpflegepersonal sei
«ermüdet», und dadurch anfälliger für Erkrankungen. Auch gebe es

Kollegen, die nach einem schweren Corona-Krankheitsverlauf mit
Komplikationen wie chronischer Erschöpfung, Konzentrationsproblemen
und Gedächtnislücken zu kämpfen hätten. «Die zweite Welle tut mir

viel mehr weh», sagt Schwall. Die Politik habe zwischen Juli und
September die Chance verpasst, das Personal aufzustocken.

Nicht nur unter dem Pflegepersonal herrscht Frustration. Jedem
fünften Unternehmen in Belgien drohe der Konkurs, warnte der
Arbeitgeberverband bereits vor dem Lockdown. Virologe van Gucht
bekommt täglich Emails von wütenden oder ratlosen Mitbürgern, manche

äußern sogar Selbstmordgedanken. «Ich fühle wirklich mit», sagt v
an
Gucht mit Blick auf die grassierende Verzweiflung. «Aber wir hatten
keine Wahl. Diese Pandemie fühlt sich selbst für einen Virologen
surreal an.»