Drei Abgeordnete, vier Störer und eine sich ahnungslos gebende AfD Von Ulrich Steinkohl und Anne-Béatrice Clasmann, dpa

Die AfD im Bundestag gibt sich unschuldig, die anderen Fraktionen
schäumen: Die Störaktionen im Bundestag am Mittwoch werden
möglicherweise ein strafrechtliches Nachspiel haben - nicht nur für
die Störer.

Berlin (dpa) - Rüpeleien, Provokationen, Regelbrüche - und nun
möglicherweise auch gezielte Rechtsverstöße: Mit dem Einzug der AfD
in den Bundestag 2017 ist das Klima dort spürbar rauer geworden.
Vorläufiger Höhepunkt: die Zwischenfälle bei den Beratungen über da
s
Infektionsschutzgesetz am Mittwoch. Sie begannen mit einer
unzulässigen Plakataktion der Fraktion im Plenarsaal und gipfelten im
Bedrängen und Beleidigen von Politikern wie Wirtschaftsminister Peter
Altmaier (CDU) durch Besucher, die von AfD-Abgeordneten eingeladen
waren.

Es sind Vorgänge wie diese, die den Ersten Parlamentarischen
Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, Marco Buschmann, sagen
lassen: «Die AfD betreibt Parlamentssabotage.» Buschmann sitzt im
Plenarsaal direkt neben den AfD-Fraktionschefs Alice Weidel und
Alexander Gauland. Er hört Vieles, was auf den Besuchertribünen und
in Fernsehübertragungen nicht mehr zu hören ist. «Was man an
Getuschel, Gezischel und Zurufen aus der AfD-Fraktion mitbekommt, ist
unerträglich», sagt der FDP-Mann.

Oft bleibt es nicht beim Gezischel. Ein Beispiel: Als der Bundestag
im Mai vergangenen Jahres über das 70-jährige Bestehen des
Grundgesetzes debattiert, greift der AfD-Abgeordnete Stephan Brandner
- damals noch Vorsitzender des Rechtsausschusses - den auf der
Gästetribüne sitzenden Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier an.

Der Rechtsstaat werde von den anderen Parteien immer mehr «ignoriert,
gebogen und mit den Füßen getreten», behauptet Brandner. Und zwar auf

nahezu allen Ebenen. «Fangen wir ganz oben an, beim Staatsoberhaupt.»
Das wird dann auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) zu
viel: Er ruft Brandner zur Mäßigung auf.

Weibliche Abgeordnete berichten auch von sexistischer Anmache aus den
Reihen der AfD-Fraktion. Bisweilen geschieht diese ganz offen. Als
die FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann einmal
mit schwarzer Lederjacke unterwegs ist, wird sie vom AfD-Abgeordneten
Jürgen Braun gefragt, ob sie jetzt die Peitsche heraushole - worauf
sie kontert: «Haben Sie Notstand zu Hause?»

Am Mittwoch setzt die AfD noch einen drauf. Als Gesundheitsminister
Jens Spahn (CDU) ans Rednerpult tritt, holen große Teile der Fraktion
im Plenarsaal weiße Plakate hinter ihrer Abgeordnetenbank hervor, auf
denen «Grundgesetz» steht, darüber ein schwarzer Trauerflor mit einem

Kreuz und dem Datum 18.11.2020. Nur zögerlich kommen die Abgeordneten
der Aufforderung Schäubles nach, diese Aktion sofort zu beenden.
Diese war vorher besprochen worden.

Anders verhält es sich wohl mit den Besuchern, die etwa zeitgleich
auf den Gängen des Reichstagsgebäudes Abgeordnete, darunter
Wirtschaftsminister Altmaier aggressiv ansprechen, bedrängen, filmen
und beleidigen. Nach einem Sicherheitsbericht der Bundestagspolizei
dringen sie auch in ein Abgeordnetenbüro ein. Dem Bericht zufolge
wurden die insgesamt vier Störer, darunter Youtuber, von den drei
AfD-Abgeordneten Udo Hemmelgarn, Petr Bystron und Hansjörg Müller
eingeladen.

Schon mehrfach hatten sich zuvor AfD-Abgeordnete als Türöffner für
Störer, rechte Blogger, AfD-freundliche Bürgerjournalisten und
rechts-alternative Medien betätigt. Unter anderem lud die Fraktion
bereits zweimal zu einem «Kongress der Freien Medien» in den
Bundestag ein. Ziel dieser Veranstaltungen war es unter anderem, das
zu geißeln, was die AfD als «Mainstream-Journalismus» bezeichnet.

Bystron teilt am Donnerstag mit, nach einer internen Prüfung habe
sich herausgestellt, dass auch eine der vier an den Störungen
Beteiligten ohne sein Wissen über seinen Büroleiter angemeldet worden
sei. Und Müller sagt auf Anfrage, er habe zwar drei Gäste in seinem
Büro empfangen. Diese hätten sich aber «gesittet» verhalten. Müll
er
selbst hatte sich zeitweise an der Kundgebung am Brandenburger Tor
beteiligt. «Ich war nicht derjenige Abgeordnete, der Leute
hereingelassen hat, die Rabauken gespielt haben», betont er.

Auch die Fraktionschefs Weidel und Gauland äußern am Donnerstag ihr
Bedauern über das «inakzeptable Verhalten» der Besucher und
bekräftigen zugleich: «Zu keinem Zeitpunkt hat die AfD-Fraktion
jedoch Gäste mit dem Ziel in den Bundestag eingeladen, den
parlamentarischen Ablauf zu stören oder Abgeordnete an der Ausübung
ihres Mandates zu behindern.»

Kann es wirklich sein, dass AfD-Abgeordnete einschlägig bekannte
Besucher zu einer absehbar brisanten und von massivem Straßenprotest
begleiteten Debatte in den Bundestag einladen, ohne sich Gedanken zu
machen, was diese vorhaben? Die im Nachhinein zur Schau gestellte
Ahnungslosigkeit könnte einen tieferen Grund haben: Möglicherweise
haben sie sich selbst strafbar gemacht.

Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki jedenfalls sieht in den
Vorfällen im Zusammenhang mit der Abstimmung über das
Infektionsschutzgesetz einen Fall von Nötigung. In Betracht komme
eine Straftat nach Paragraf 106 StGB (Nötigung des Bundespräsidenten
und von Mitgliedern eines Verfassungsorgans), «zu der Abgeordnete
auch Anstiftung oder Beihilfe leisten können». Der FDP-Politiker und
erfahrene Jurist fordert: «Dies wird ernsthaft zu prüfen sein.» Genau

diesen Weg beschließt der Ältestenrat des Bundestags am Donnerstag.