Pandemie im Polder: Niederlande vor der Katastrophe Von Annette Birschel, dpa

Die Niederlande sind besonders hart getroffen von der zweiten
Corona-Welle. Regeln befolgen die Bürger kaum. Nun verhängte Premier
Mark Rutte den «Teil-Lockdown». Es ist die letzte Warnung.

Den Haag (dpa) - Das Coronavirus schlägt in der zweiten Welle hart zu
in den Niederlanden, und die Bürger machen Party. Während die
Abgeordneten in Den Haag am Mittwochabend über die düstere Realität
debattierten, grölten, tranken und tanzten Hunderte in Partyzelten
auf dem Platz vor dem Parlamentsgebäude. Ähnliche Szenen wurden auch
aus anderen Städten gemeldet. Wohl ein letzter Tanz, bevor Kneipen,
Cafés und Restaurants für mindestens vier Wochen schließen mussten.


Das Verhalten passt zu den Niederländern, die den Wert des Lebens
gerne daran messen, wie «gezellig» es ist. Touristen wunderten sich
bereits in den Sommermonaten darüber, wie locker es die Niederländer
mit der Coronakrise nahmen. Kaum war der erste «intelligente
Lockdown» am 1. Juni vorbei, ging das normale Leben wieder voll
weiter. Keine Masken, keine Kontrollen, aber dichtes Gedränge in
Geschäften und Kneipen. Super-Gezellig.

Inzwischen griff das Coronavirus in Windeseile um sich. Binnen 24
Stunden wurden am Freitag zuletzt knapp 8000 Neuinfektionen gemeldet
- in einem Land mit gut 17 Millionen Einwohnern. Bedrohlich ist die
Lage in Krankenhäusern und auf Intensivstationen. Dort liegen bereits
so viele Covid-19-Patienten, dass die normale Pflege für andere
Patienten abgebaut wird. Die Notaufnahmen in Großstädten müssen
bereits zeitweilig geschlossen werden. Es gibt zu wenig Betten und zu
wenig Personal, und vor den Türen stehen die Krankenwagen mit
Patienten Schlange.

Alle Alarmsignale stehen auf Rot. Die Lage sei bedrohlicher als im
Frühjahr, sagte der Amsterdamer Virologe Hans Zaaijer der Zeitung «De
Telegraaf». «Wir befinden uns im Vorlauf einer Katastrophe.»

Um die abzuwenden, verhängte Premier Mark Rutte den «Teil-Lockdown»
.
Unter anderem Gaststätten sind geschlossen und eine Maskenpflicht
wird eingeführt.

Die Gesichtsmasken wurden zum Symbol für die wankelmütige Politik.
Der rechtsliberale Premier hält sie für Unsinn. «Masken bringen
nichts.» Doch zu Beginn der Woche erschien er auf einmal selbst mit
einem «maskertje», einem «Mäskchen», wie er fast liebevoll sagte.
Ein
Signal für die Bürger: Jetzt wird es ernst.

Rutte würde das Virus am liebsten nur mit den einfachsten Geboten
bekämpfen: Hände waschen, 1,5 Meter Abstand, Testen bei Symptomen.
Der 53-Jährige hält auch nicht viel von Anordnungen. «Ich bin doch
kein Diktator», sagt er. «Wir sind alle erwachsen.»

Das kommt den Niederländern sehr entgegen, die sich nun einmal nicht
gerne etwas vorschreiben lassen. Viele Bürger, so bemängelte das «NRC

Handelsblad», legen die wenigen Corona-Regeln so aus, wie es ihnen am
besten passt. Nur drei Gäste empfangen? Dann laden wir doch pro
Stunde drei ein. 1,5 Meter Abstand? Ach, ich kann das Virus doch
nicht kriegen. Positiv getestet? 20 Prozent gehen doch noch eben
schnell einkaufen.

Den Mangel an Disziplin beklagt auch Andreas Voss, Professor für
Infektionsprävention in Nimwegen und einer der Berater der Regierung.
«Die Leute sollten endlich die Regeln befolgen». Der Mikrobiologe
sieht einen wesentlichen Unterschied zu seinen deutschen Landsleuten.
«Dort wird weniger über die Maßnahmen diskutiert und werden die
Richtlinien besser befolgt.»

Das Reden läuft tatsächlich in den Niederlanden wie am Schnürchen.
Seit März diskutieren täglich Influencer, selbst ernannte Experten
und Blogger an den Tischen der drei wichtigsten TV-Talkshows über
Sinn und Unsinn der Corona-Maßnahmen.

«Wir alle haben es nicht gut gemacht», gibt der Premier zu. Doch
inzwischen wird seine Regierung auch verantwortlich dafür gemacht,
dass die Dinge so aus dem Ruder laufen konnten. Die linke Opposition
wirft dem Kabinett Systemfehler und Führungsschwäche vor.

Schon das Testen funktioniert nicht - trotz aller Versprechen. Die
Gesundheitsämter haben viel zu wenig Mitarbeiter und die Labors
erschreckend wenig Kapazitäten. Sie sind auch hoffnungslos damit
überfordert, die Kontaktpersonen aufzuspüren und so die Quelle einer
Infektion zu finden. Das soll jeder selbst machen. Die im März mit
viel Tamtam angekündigte Corona-App wurde erst sieben Monate später,
in der vergangenen Woche eingeführt.

Auch die Kapazität der Krankenhäuser reicht hinten und vorne nicht.
Zu Beginn der Corona-Pandemie gab es rund 1150 Betten auf
Intensivstationen. Im Vergleich: Allein in Nordrhein-Westfalen, das
eine ähnliche Einwohnerzahl hat, gibt es über 6000 - fünfmal so
viele. Bundesaußenminister Heiko Maas bekräftigte die Bereitschaft
Deutschlands, je nach Kapazitäten Corona-Patienten aus anderen
EU-Staaten aufzunehmen. «Europäisch können wir das jetzt über das
neue Frühwarnsystem viel besser koordinieren als im Frühjahr», sagt
er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Kliniken in
Nordrhein-Westfalen wollen wie im Frühjahr Covid-19-Patienten aus dem
Nachbarland aufnehmen; auch Niedersachsen ist zu Hilfe bereit.

Das Schlimmste will das Land nun in einer letzten Kraftanstrengung
verhindern. Für mindestens vier Wochen liegt das soziale Leben
weitgehend still. Der Tanz mit dem Virus ist vorbei - vorläufig.