Vier Plätze bleiben frei - EU-Gipfel kämpft mit dem Coronavirus Von Michel Winde, dpa

Für die Bürger gelten wegen Corona fast überall in Europa wieder
harte Einschränkungen. Die Zahl der Infektionen steigt und steigt.
Und doch kommen zum EU-Gipfel Hunderte Menschen zusammen. Für Ursula
von der Leyen dauert das Treffen nur wenige Minuten. Muss das sein?

Brüssel (dpa) - Der Brüsseler EU-Gipfel hatte gerade erst begonnen,
da war er für Ursula von der Leyen auch schon wieder vorbei. Anstatt
Kanzlerin Angela Merkel und die anderen Staats- und Regierungschefs
am Donnerstag über den Brexit-Streit zu informieren, verließ die
Präsidentin der EU-Kommission schnurstracks den Europäischen Rat.

Eine Person aus ihrem Sekretariat war positiv auf das Coronavirus
getestet worden. Vorsichtshalber ist von der Leyen nun - trotz eines
negativen Tests - für eine Woche in Selbstisolation. Tags darauf
folgte ihr Finnlands Ministerpräsidentin Sanna Marin. Auch sie hatte
Kontakt zu einer positiv getesteten Person. Zum Ende des Gipfels
fehlten coronabedingt vier Teilnehmer. Sinnbild für Gipfel in Zeiten
der zweiten Corona-Welle? 

Es dürfte, so viel steht nach diesem Gipfel fest, zumindest das
letzte Treffen dieser Art mindestens bis Mitte Dezember gewesen sein:
Zwei Tage lang kamen die EU-Staats- und Regierungschefs mit ihren
Delegationen in Brüssel zusammen. In jener Stadt also, in der binnen
14 Tagen zuletzt im Schnitt fast 950 neue Corona-Infektionen pro
100 000 Einwohner registriert wurden. Belgienweit sind es 588 - der
zweithöchste Wert in der EU. Beim Gipfel ging es um den Brexit, ein
neues Klimaziel für 2030, die Beziehungen der 27 EU-Staaten zu Afrika
und den Gasstreit mit der Türkei. Aber es ging auch darum, dass die
Zahl der Corona-Infektionen fast überall in Europa dramatisch steigt.

Und deshalb stellte sich die Frage, ob so ein Gipfel mit Hunderten
Menschen aus ganz Europa überhaupt sein muss. Sind derlei Treffen ein
gutes Zeichen an die Bevölkerung, der immer mehr Entbehrungen
abverlangt werden? Und muss man wirklich von einem Risikogebiet ins
nächste reisen, während in Deutschland seit Tagen über ein
Beherbergungsverbot diskutiert wird?

Noch am Mittwochabend, nach dem Corona-Gipfel im Kanzleramt, hatte
Merkel gesagt, dass man dringend dazu aufrufe, «von nicht notwendigen
Reisen insbesondere aus den Hotspotgebieten abzusehen, weil wir
wissen, dass das Reisegeschehen immer auch ein Geschehen ist, das
weitere Infektionen verursachen oder die Verbreitung in die Fläche
hinein noch einmal beschleunigen kann». Aber was sind notwendige
Reisen? Und was nicht?

Es sind Fragen, die sich nicht erst durch von der Leyens und Marins
Abgänge stellen. Die dänische Regierungschefin Mette Frederiksen
kritisierte den physischen Gipfel schon vor Beginn. Der polnische
Ministerpräsident Mateusz Morawiecki sagte seine Teilnahme ab, weil
er in Selbstisolation ist; gleiches gilt für den EU-Außenbeauftragten
Josep Borrell. Und ein Gipfel vor drei Wochen musste verschoben
werden, weil Ratschef Charles Michel in Quarantäne war.

Zu Beginn der Corona-Krise tagten die EU-Staats- und Regierungschefs
monatelang nur per Videokonferenz. Allerdings wurde bald deutlich,
dass diese Art der Krisendiplomatie schnell an ihre Grenzen stößt. So
können bei digitalen Gipfeln keine formellen Beschlüsse gefasst
werden; die Vier-Augen-Gespräche am Rande fallen weg; und zudem
wissen die Teilnehmer nie, wer bei den anderen außerhalb des
Kamerabildes noch im Raum sitzt. Vertraulich ist anders.

Umso erleichterter waren Merkel und Co, als im Juli endlich wieder
ein physischer Gipfel stattfand. Gut vier Tage und Nächte
verhandelten die Spitzenpolitiker über den siebenjährigen EU-Haushalt
und das Corona-Aufbauprogramm mit einem Gesamtvolumen von 1,8
Billionen Euro. Dass es per Video kaum zu einer Einigung gekommen
wäre, ist Konsens.

Aber haben derlei Gipfel nicht das Potenzial, zum Superspreader-Event
zu werden? Und messen die Spitzenpolitiker nicht mit zweierlei Maß,
wenn sie in Krisenzeiten auf Präsenzgipfel bestehen? Sind sie
schlechte Vorbilder?

Ratschef Michel verteidigte den physischen Gipfel: Natürlich müsse
man sich der Krise anpassen. Aber es gebe eben einige Themen, bei
denen die persönliche Präsenz unerlässlich sei. Bei dem Gipfel im
Juli sei das so gewesen. Und die Brexit-Debatte betreffe das auch.
Künftig solle vom Thema abhängig gemacht werden, in welchem Format
man zusammenkomme.

Ohnehin betonen die Veranstalter vom Europäischen Rat, dass bei
Einhaltung aller Vorsichtsmaßnahmen keine Gefahr bestehe. So seien
die Delegationen deutlich verkleinert und die Konferenzräume so
gewählt worden, dass stets eineinhalb Meter Abstand eingehalten
werden könnten. Die Luft werde gefiltert und ein Wegesystem sei
eingerichtet worden. Wenn der Abstand nicht eingehalten werden könne,
seien Masken verpflichtend - beim Bewegen innerhalb des Gebäudes
ohnehin. Alle Räume würden gründlich gereinigt. Auch seien diverse
Spender mit Desinfektionsmittel angebracht worden.

All das macht es unwahrscheinlich, dass von der Leyen und Marin eine
Gefahr für Merkel und die anderen Staats- und Regierungschefs waren.
Zumal es zunächst keine Hinweise darauf gab, dass beide tatsächlich
infiziert waren. Dennoch hat sich wohl die Einsicht durchgesetzt,
dass von derlei Treffen im Moment kein gutes Signal ausgeht. Der für
den 16. November in Berlin geplante EU-Gipfel zur China-Politik wurde
am Freitag abgesagt. «Im Sinne der Kontakte ist das glaube ich eine
notwendige Botschaft», sagte Merkel.