Corona-Beschränkungen auch in Kassel - Gesundheitsämter am Limit

Die Zahl der Corona-Fälle steigt in Hessen deutlich, ein großer
Ausbruch treibt Kassel in den Bereich jenseits der höchsten
Warnschwelle. Die Quelle der Infektionen ist inzwischen oft nicht
mehr ermittelbar.

Kassel/Wiesbaden (dpa/lhe) - Nach einem Corona-Ausbruch in einer
Einrichtung für Flüchtlinge hat nun auch Kassel erneute
Beschränkungen des öffentlichen Lebens beschlossen. Größere
Veranstaltungen mit mehr als 250 Teilnehmern dürften bis auf weiteres
nicht stattfinden, erklärte die Stadt am Mittwoch. Private Feiern mit
mehr als 25 Personen werden untersagt. Kassel ist die landesweit
fünfte Kommune, die den als kritischen geltenden Inzidenz-Wert von 50
Neuinfektionen pro 100 000 Einwohnern binnen sieben Tagen
überschreitet.

Der Ausbruch in der Einrichtung für Flüchtlinge katapultierte Kassel
über Nacht sogar in die höchste Infektionswarnstufe des Landes. In
der nordhessischen Stadt erhöhte sich am Mittwoch die Inzidenz auf
94,2, wie ein Sprecher mitteilte. Sie ist damit die Region mit dem
höchsten Wert in Hessen. Am Vortag hatte der Wert noch bei 33,7
gelegen. Die fünfte Warnstufe des Präventions- und
Eskalationskonzeptes des Landes greift ab 75.

Über dem Wert von 50 lagen am Mittwoch zudem weiter die Städte
Frankfurt (70,9) und Offenbach (86,7) sowie die Kreise Groß-Gerau
(61,6)und Main-Taunus (53,6). Das Konzept der Landesregierung sieht
ab einer Inzidenz von 50 konsequente Beschränkungen vor. In der
höchsten Stufe ab 75 gilt eine Steuerung der medizinischen Lage durch
den Planungsstab des Sozialministeriums. Dies bedeute einen sehr
engen Austausch mit den Kommunen und begleitende Beratung, erklärte
das Ministerium. Das Ausbruchsgeschehen werde vor Ort gesteuert.
Sollte das Ministerium zu der Auffassung gelangen, dass die vor Ort
ergriffenen Maßnahmen nicht ausreichend sind, könne es die
Fachaufsicht an sich ziehen.

In der Kasseler Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge stehen seit
Freitag 301 Bewohner unter Quarantäne, infiziert sind bisherigen
Ergebnissen zufolge mindestens 111 Personen. Ohne Berücksichtigung
dieses Ausbruchs liege die Inzidenz in Kassel bei 42,1.

Landesweit stieg die Zahl der Neuinfektionen deutlich. Im Vergleich
zum Vortag kamen 509 hinzu, wie aus einer Übersicht des
Sozialministeriums vom Mittwoch hervorgeht. Darin sind fünf weitere
Todesfälle aufgeführt.

Die Stadt Frankfurt will an diesem Donnerstag nach einer Sitzung des
Verwaltungsstabs über die aktuelle Lage informieren. Vergangene Woche
hatte die Mainmetropole unter anderem eine Sperrstunde für
Gaststätten ab 23.00 Uhr verhängt, am Mittwoch wies das
Verwaltungsgericht drei weitere Eilanträge dagegen ab. Der
Klinikverbund Frankfurt-Main-Taunus verhängte einen erneuten
Besuchsstopp, betroffen ist auch ein Altenheim.

Hessens Gesundheitsämter können einen erheblichen Teil der neuen
Corona-Infektionen nicht mehr bis zu ihrem Ursprung zurückverfolgen.
Die Quote der nicht mehr nachvollziehbaren Ansteckungen lag in den
vergangenen 14 Tagen je nach Kommune zwischen 29 und 76 Prozent, wie
Stichproben der Deutschen Presse-Agentur bei Städten und Kreisen mit
erhöhten Infektionszahlen zeigen. In Frankfurt beispielsweise konnte
- abgesehen von größeren Ausbrüchen in Einrichtungen - in weniger als

50 Prozent der gemeldeten Fälle, eine Person oder Situation ermittelt
werden, von der die Infektion ausging.

Wird eine Infektion festgestellt, versuchen die Ämter, die Kette
nachzuvollziehen und zu unterbrechen. Doch angesichts steigender
Infiziertenzahlen arbeiten die Behörden vielerorts am Limit. Der
Verband der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes

kritisiert die bisherige Strategie: «Die Frage ist: Ist es sinnvoll,
allen Verdachtsfällen nachzujagen, oder wenden wir uns den kranken
Leuten zu? Verbrennen wir weiter Laborkapazitäten, oder schalten wir
langsam in den Modus medizinischer Vernunft um und kümmern uns um die
Infizierten/Kranken und Schutzbedürftigen?», sagte Jürgen Krahn,
Vorstand der Verbands in Hessen.

Hessens Sozialminister Kai Klose (Grüne) hatte bei einer
Pressekonferenz am Montag das Ziel genannt, die Infiziertenzahlen
nach unten zu drücken, um eine Nachverfolgbarkeit von Infektionen
durch die Gesundheitsämter weiter zu gewährleisten.

Wegen der Pandemie begann am Mittwoch die Frankfurter Buchmesse mit
ersten Livestreams im Internet. Die 72. Ausgabe des internationalen
Branchentreffens findet nahezu ausschließlich im Internet statt. In
den vergangenen Wochen wurden die vor Ort geplanten Veranstaltungen
Stück für Stück zusammengestrichen.

Nach Einschätzung des hessischen Verkehrsministeriums wird das
Corona-Virus im öffentlichen Nahverkehr in diesem Jahr Verluste von
rund 300 Millionen Euro verursachen. Bund und Land würden dies
ausgleichen, sagte Minister Tarek Al-Wazir (Grüne) dem Sender
hr-iNFO. Auch nächstes Jahr sei dies möglich.