Corona in Berlin: Die getriebene Hauptstadt Von Stefan Kruse, dpa

Berlin gilt als Metropole zum Feiern und Ausgehen. Das ging auch in
der Corona-Krise lange gut. Doch nun ändert sich das Bild.

Berlin (dpa) - In Berlin steppt der Bär, wird über die bunte Kultur-,
Musik- und Clubszene in der Hauptstadt gerne gesagt. Auch gerne mal
ohne Ab- und Anstand, muss man in Zeiten der Corona-Pandemie
hinzufügen. Polizei und Ordnungsämter mühen sich redlich, führen
«Schwerpunktkontrollen» in der Gastronomie durch oder lösen Partys
auf. Allerdings werden sie der urbanen Feierwut, die sich in Berlin
noch nie besonders stark an Regeln orientierte, nicht Herr.

Und so gelten private Feste zu Hause oder in Kneipen und illegale
Partys auf Straßen oder in Parks, bei denen reichlich Alkohol fließt
und vor allem jüngeren Leuten alles egal zu sein scheint, laut
Behörden mittlerweile als Haupt-Infektionsherde. Maske?
Mindestabstand? Was war das noch gleich? Was im Sommer mit niedrigen
Infektionszahlen noch weitgehend gut ging, ist nun zum Problem
geworden: Berlin gilt bundesweit als Corona-Hotspot mit einem
aktiveren Infektionsgeschehen als zu Beginn der Pandemie im Frühjahr.

«Da sind einige Hundert, die unsere Erfolge der gesamten
Stadtgesellschaft der letzten Monate gefährden», kritisiert Berlins
Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) - und geißelt das
«feierwütige Volk» in seiner Stadt. Die Entwicklung setzt den
rot-rot-grünen Senat im Rathaus unter Handlungsdruck, zumal sich
zuletzt wiederholt Bundespolitiker zu Wort meldeten und das Bild
einer Hauptstadt zeichneten, die fahrlässig mit der Pandemie umgehe
und Regeln nicht durchsetze. «Es muss in Berlin was passieren», wurde
etwa Kanzlerin Angela Merkel (CDU) vor rund einer Woche von
Teilnehmern einer Videoschalte des CDU-Präsidiums zitiert.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) kann nicht verstehen, dass
in Berlin große Partys möglich seien und es Restaurants gebe, wo man
mit Maske angeguckt werde, als wäre man «vom Mond». Bei der
Durchsetzung der Regeln gehe «noch mehr», befand er erst am Montag.
Ein paar Tage zuvor hatten er und Verteidigungsministerin Annegret
Kramp-Karrenbauer (CDU) öffentlich den Kopf darüber geschüttelt, dass

der grün-linksalternativ geprägte Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg
keine Hilfe der Bundeswehr bei der Kontaktverfolgung zulässt - obwohl
er zu denen mit den meisten Corona-Neuinfektionen gehört. Die
Wehrbeauftragte des Bundestages, Eva Högl (SPD), bezeichnete die
Absage als «bedauerlich».

Die so Gescholtenen, der Senat, will sich den Schuh eines schludrigen
Umgangs mit der Seuche nicht anziehen. Müller hat gerade den Vorsitz
der Ministerpräsidentenkonferenz übernommen und will im Kreis seiner
Länderkollegen nicht als Corona-Lachnummer wahrgenommen werden. Auch
deshalb machen er und Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) bei
den Koalitionspartnern Druck, Maßnahmen zu beschließen.

So gelten in Berlin jetzt neue Beschränkungen: Private Feiern im
Freien mit mehr als 50 Teilnehmern sind verboten. In geschlossenen
Räumen gilt eine Obergrenze von 25 Teilnehmern. Neu ist auch eine -
bundesweit einmalige - Maskenpflicht in Bürogebäuden.

Doch kaum waren die Regeln am Wochenende in Kraft gesetzt, preschte
die Gesundheitssenatorin angesichts eines rasanten Anstiegs der
Corona-Zahlen mit neuen Vorschlägen vor. «Wir brauchen ein Ausschank-
und Verkaufsverbot für Alkohol von 23.00 Uhr bis 6.00 Uhr», forderte
Kalayci. Gleichzeitig brachte sie neue Kontaktbeschränkungen im
Freien ins Spiel, die an die harten Maßnahmen in der Anfangsphase der
Corona-Krise im Frühjahr erinnern. Allerdings sind im Senat Linke wie
auch Grüne gegen immer neue, allzu weitreichende Beschränkungen.
Alkoholbeschränkungen unterschiedlicher Art gibt es schon in einigen
deutschen Städten, etwa in München.

Hintergrund der Debatte ist ein Kriterium, dass bei der Bewertung des
Infektionsgeschehens große Bedeutung hat: Die Zahl der Neuinfektionen
je 100 000 Einwohner in den vergangenen sieben Tagen. Dieser Wert
klettert in Berlin schon länger und betrug zuletzt 41,5 (Stand
Montag). Im Ländervergleich liegt Berlin damit vorn, auch im etwas
aussagefähigeren Vergleich mit anderen großen Metropolen wie München,

Hamburg oder Köln - obwohl es dort teils ähnliche Probleme mit dem
Infektionsgeschehen gibt wie in der Hauptstadt.

Was bei Politik und Behörden die Alarmglocken jedoch noch lauter
schrillen lässt, sind Daten für die Berliner Bezirke. In Neukölln
schnellte der Wert laut Gesundheitsverwaltung zuletzt auf 87,6
Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen
(Stand Montag) hoch. In drei weiteren Bezirken -
Friedrichshain-Kreuzberg, Mitte und Tempelhof-Schöneberg - liegt er
teils weit über 50. Das ist der kritische Grenzwert, der in der
Corona-Pandemie bei der Entscheidung über zusätzliche
Infektionsschutzmaßnahmen eine wichtige Rolle spielt.

Folge: In Ländern wie Schleswig-Holstein oder Rheinland-Pfalz gilt
eine 14-tägige Quarantänepflicht für weit mehr als eine Million
Einwohner aus diesen Berliner Bezirken, sollten sie einreisen. Denn
das Robert Koch Institut listet in seinen Übersichten - im
Unterschied zu anderen Großstädten - Berliner Bezirke als einzelne
Kommunen auf. Damit stehen viele Urlaubsreisen in den bevorstehenden
Herbstferien auf der Kippe.