Corona-Lockdown Nummer zwei - Israel macht wieder dicht Von Sara Lemel und Sebastian Engel, dpa

Tel Aviv (dpa) - Galt Israel zunächst als Musterland bei der
Corona-Bekämpfung, so erreicht die Zahl der täglichen Neuinfektionen
nun Rekordwerte. Die Regierung ergreift wieder zu harten Maßnahmen,
die Opposition tobt. Stehen die Israelis hinter dem Kurs? Ein
Überblick:

Warum muss Israel zurück in einen Lockdown?

Experten kritisieren, Lockerungen im Mai seien zu umfangreich und
nicht abgestuft erfolgt. Zudem gelang es nicht, ausreichend Vorsorge
für die erwartbare zweite Welle zu treffen. So funktioniert etwa die
Kontaktnachverfolgung lange ungenügend. Diese Aufgabe soll nun die
Armee übernehmen, die dazu gebildete Truppe ist aber noch nicht voll
einsatzbereit. Auch der Ansatz, Ausbrüchen mit lokalen Restriktionen
zu begegnen, schlug angesichts der hohen Zahlen fehl. Die Opposition
wirft der Regierung Versagen vor, weil sie das von der Corona-Krise
wirtschaftlich arg gebeutelte Land in einen zweiten Lockdown steuert.
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu war im Frühsommer neben der
Corona-Krise vor allem mit dem Beginn des Korruptions- und
Betrugsprozess gegen sich sowie mit geplanten Annexionen von Land im
besetzten Westjordanland beschäftigt. Ferner wurden hinter den
Kulissen Vorbereitungen für historische Annäherungen mit den
Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain getroffen.

Welche Maßnahmen sind geplant?

Der Regierung geht es vor allem darum, eine Überlastung des
Gesundheitssystems zu verhindern. Zwei Kliniken konnten zuletzt keine
weiteren Corona-Patienten mehr aufnehmen. Während des Lockdowns ab
Freitag (14.00 Uhr Ortszeit/13.00 Uhr MESZ) sollen vor allem
Menschenansammlungen verhindert werden. Es gelten
Versammlungsbeschränkungen: Bis zu 20 Menschen dürfen sich im Freien
und bis zu zehn Menschen in Innenräumen versammeln. Schulen und
Kindergärten sollen geschlossen bleiben. Auch Hotels,
Einkaufszentren, Freizeitstätten und Strände müssen schließen.
Restaurants dürfen nur noch außer Haus verkaufen.
Lebensmitteleinkäufe und Arztbesuche sind weiter erlaubt. Die
Menschen dürfen sich nur noch in Ausnahmefällen weiter als 500 Meter
von ihrem Zuhause entfernen, etwa für den Weg zum Arbeitsplatz. Ran
Balicer, ein Berater des nationalen Corona-Beauftragten Ronni Gamzu,
betonte, die Maßnahmen seien weniger restriktiv als beim ersten
Lockdown. Es gelte, ein Gleichgewicht zwischen ökonomischen
Notwendigkeiten und nötigen Restriktionen zu schaffen.

In welchen Bevölkerungsgruppen sind die Zahlen besonders hoch?

Die höchsten Infektionszahlen finden sich in arabischen und
ultraorthodoxen jüdischen Wohnvierteln. Dort leben häufig größere
Familien auf engem Raum zusammen, so dass Infektionsketten nur schwer
unterbrochen werden können. Viele Corona-Hotspots liegen in Israels
Peripherie, etwa im Norden und Süden des Landes. Die am stärksten
betroffene Stadt ist Jerusalem. Viele Mitglieder der arabischen
Minderheit und viele strengreligiöse Juden fühlten sich schon vor
Beginn der Corona-Krise nicht vom Staat Israel vertreten. Sie leben
teilweise in einer Art Parallelwelt und folgen eher den Vorgaben
ihrer eigenen Führung als denen des Staates.

Chaim Kanievsky, ein sehr einflussreicher Rabbiner innerhalb der
strengreligiösen Gemeinschaft, hatte jüdische Religionsstudenten dazu
aufgerufen, sich nicht auf das Coronavirus testen zu lassen. Als
Grund sagte er, eine Corona-Quarantäne gefährde die Bibelstudien.
Auch in arabischen Ortschaften gab es viele Verstöße gegen
Corona-Regeln, es wurden dort etwa große Hochzeiten abgehalten.

Welche Rolle spielen die Schulen?

Die Schulen und Kindergärten wurden auf Drängen Gamzus schon einen
Tag vor Lockdown-Beginn geschlossen. Er hatte nach Berichten in einem
Brief an das Gesundheits- und das Bildungsministerium geschrieben,
der jüngste Anstieg sei vor allem auf Infektionen bei Schulkindern ab
zehn Jahren und älter zurückzuführen. Dutzende Schulen mussten nach
Beginn des Schuljahrs am 1. September wieder geschlossen werden,
Zehntausende Schüler wurden in Quarantäne geschickt.

Warum haben die Menschen das Vertrauen in die Regierung und ihren
Kurs verloren?

In einem schleichenden Prozess ist die Akzeptanz der Israelis für die
Maßnahmen der Regierung immer mehr gesunken. Die Gründe hierfür sind

vielfältig. Zum einen gaben Spitzenpolitiker schlechte Vorbilder ab.
So feierten Netanjahu und Präsident Reuven Rivlin das Pessach-Fest
mit ihren Kindern, obwohl es der breiten Bevölkerung verboten war.
Die Liste ähnlicher Verfehlungen anderer Volksvertreter ist lang. Zum
anderen war der Kurs der Regierung häufig nicht stringent. So wurden
mehrfach Einschränkungen angekündigt, nur um dann wenig später wieder

einkassiert zu werden.

Kritisiert wurde auch eine zu große Rücksichtnahme auf bestimmte
Gruppen. So wurden zum Beispiel in manchen Orten nach massivem Druck
ultraorthodoxer Kreise geplante Beschränkungen abgeschwächt. Die
strengreligiösen Parteien im Parlament gelten als enge Verbündete
Netanjahus und sind bei Wahlen oft Zünglein an der Waage.

Die Corona-App des Landes wurde ferner von der Bevölkerung nicht gut
angenommen. Auch die umstrittene Handy-Überwachung durch den
Inlandsgeheimdienst Shin Bet trug zu sinkendem Vertrauen bei.
Tausendfach erhielten Israelis per SMS irrtümlicherweise eine
Aufforderung, sich in Quarantäne zu begeben. Verstöße gegen die
Corona-Regeln wurden zudem nicht konsequent geahndet.

Werden die Menschen den ab Freitag geltenden Einschränkungen folgen?

Das ist unklar. Der Frust sitzt tief, etwa bei Vertretern der
Gastronomiebranche. Präsident Rivlin versuchte am Mittwochabend in
einer Rede an die Nation, die Wogen zu glätten. Er rief zu Einigkeit
und einer gemeinsamen Kraftanstrengung auf. Rivlin sagte: «Wir müssen
alles tun, um unter unseren Mitbürgern persönliches, medizinisches
und ökonomisches Vertrauen wiederherzustellen. Dies ist eine zweite
Chance und wir müssen sie nutzen, weil wir, so fürchte ich, keine
dritte bekommen werden.»