Jahr der Entscheidung - Krise von «epischen Dimensionen» im Tourismus Von Friederike Marx und Philipp Laage, dpa

Das Katastrophenjahr 2020 hat die Reisebranche nahezu abgeschrieben.
Jetzt geht es ums Überleben in der Corona-Krise und das kommende
Jahr. Welche Chancen haben Reisebüros und Veranstalter noch?

Frankfurt/Main (dpa) - Reisewarnungen, verunsicherte Urlauber,
Stillstand der Geschäfte und Ärger um Rückerstattung von
Kundengeldern: Die Tourismusindustrie erlebt eine nie da gewesene
Krise. Das aktuelle Corona-Krisenjahr hat die Branche weitgehend
abgeschrieben. «Das Jahr 2021 wird das Jahr der Entscheidung», sagte
Ingo Burmester, Zentraleuropa-Chef von DER Touristik, in einem
Gespräch der Deutschen Presse-Agentur mit Vertretern der Branche.

Mit einer schnellen Rückkehr zu alter Stärke rechnet die Branche
nicht, die bereits durch die Pleite von Thomas Cook vor einem Jahr
durchgerüttelt wurde. Am 23. September hatte der britische Konzern
den Insolvenzantrag gestellt. «Eine durchgreifende Erholung der
Nachfrage wird es erst geben, wenn ein Corona-Impfstoff da ist»,
sagte nun Burmester. «Bis dahin müssen wir die Branche stabilisieren,
damit eine massive Welle von Insolvenzen vermieden wird.»

Tourismusexperte Torsten Kirstges von der Jade-Hochschule in
Wilhelmshaven ist zuversichtlich, dass sich das Reiseverhalten der
Menschen im kommenden Jahr «wieder ein bisschen normalisiert.
Spätestens in zwei, drei Jahren werden Kreuzfahrten wieder boomen,
auch Fernreisen wieder gemacht und nachgeholt.» Er geht von aus, dass
sich das Reiseverhalten auf mittlere Sicht nicht grundsätzlich
verändert.

Doch wie viele Veranstalter und Reisebüros werden bis dahin
überleben? Den Unternehmen sind in der Krise nicht nur die Einnahmen
weggebrochen. Sie müssen auch das Geld für stornierte Reisen
zurückzahlen, sofern Kunden nicht umbuchen oder einen Gutschein
akzeptieren. Hinzu kommt die Verärgerung von Kunden, weil es bei der
Rückerstattung der Anzahlungen vor allem am Anfang der Corona-Krise
Verzögerungen gab.

«Was gerade mit der Reisebranche passiert, hat im Vergleich zu allen
Krisen bisher nahezu epische Dimensionen», berichtete Ralf Hieke,
Geschäftsführer des Reisebüros Strier. Ingo Lies, Gründer und
Firmenchef des auf nachhaltige Reisen spezialisierten Anbieters
Chamäleon steckt nach eigenen Angaben derzeit pro Tag 10 000 Euro aus
«unseren Rücklagen» in die Firma. «Dieses Jahr ist weitgehend
gelaufen. Jetzt geht es vor allem um 2021. Wir haben aktuell zwar
mehr Buchungen für das kommende Jahr als zum gleichen Zeitpunkt 2019
für 2020, es handelt sich aber vor allem um Umbuchungen», berichtete
Lies.

Ähnlich sieht das DER-Touristik-Manager Burmester: «Die Nachfrage
2021 wird durch fehlende Vorausbuchungen geringer sein. Die aktuellen
Buchungen sind vor allem auf Umbuchungen zurückzuführen.» Er schätz
t,
dass aktuell etwa 20 Prozent der touristischen Unternehmen intensiv
insolvenzgefährdet sind. «Bis 2021 wird die Zahl auf 50 Prozent
steigen.»

Immerhin: Das Interesse an Reisen im kommenden Sommer scheint da zu
sein. Nach jüngsten Daten von Travel Data + Analytics (TDA) entfielen
in diesem Juli bereits 21 Prozent der Buchungsumsätze auf die
Sommersaison 2021. «Der Wunsch zu reisen ist in diesem Jahr da und
wird auch im nächsten Jahr da sein», zeigt sich Tui-Cruises-Chefin
Wybcke Meier zuversichtlich. «Wir haben schon viele Buchungen im
System. Ob alle geplanten Reiserouten so durchführbar sein werden,
ist natürlich abhängig vom Gesamtgeschehen zu dem Zeitpunkt.»

Tui Cruises ist aktuell mit drei Schiffen auf Fahrt. «Wir hoffen,
spätestens im Frühjahr wieder mit allen sieben Schiffen unterwegs zu
sein, mit etwas weniger Auslastung, um unsere Gesundheitskonzepte
fortzusetzen und unseren Kunden somit Komfort und größtmögliche
Sicherheit zu geben», sagte Meier.

Die Buchungen für die kommende Wintersaison waren nach Angaben von
Travel Data + Analytics zuletzt unverändert schwach. Viele Reiseziele
vor allem auch Fernreisen seien wegen Reisewarnungen derzeit noch
nicht planbar. Die Branche wirft der Politik vor, zur Verunsicherung
der Urlauber massiv beigetragen zu haben. «Das Auswärtige Amt
entscheidet nicht mehr allein über Reisewarnungen. Ein Ministerium
weicht die Äußerungen des anderen auf. Das verunsichert die Kunden»,

kritisierte Hieke.

Tourismusexperte Kristges sprach von einer Katastrophe: «Dieses Hin
und Her mit Reisehinweisen und Reisewarnungen ist tödlich. Die
Instabilität in den Empfehlungen hemmt das Reiseverhalten ganz
enorm.» Einige Veranstalter haben daraus Konsequenzen gezogen. «Wir
richten uns nicht mehr nur nach den Reisewarnungen des Auswärtigen
Amtes, sondern lassen die Gäste entscheiden, ob sie gegebenenfalls
trotz Reisewarnung in ein Gebiet mit nachweislich niedrigem
Infektionsgeschehen reisen möchten», berichtete Lies. Alltours
überlies zuletzt für Urlaube auf Mallorca und den Kanarischen Inseln
den Kunden die Entscheidung.

Wenig Verständnis gibt es für die Äußerungen von Bundesaußenminis
ter
Heiko Maas (SPD), die Bundesregierung werde gestrandete Urlauber
nicht noch einmal zurückholen. «Das war ein Unding», sagte Kristges.

«Die Veranstalter sind ja dazu verpflichtet. Die, die nicht mehr
zurückgeholt werden, sind die Individualreisenden.» Auch Burmester
betont: «Die Pauschalreise ist die sicherste Reiseform mit einer
Insolvenzabsicherung und der Rückholung der Gäste durch den
Veranstalter im Krisenfall.»