WHO-Europa-Chef: Müssen eine Corona-Müdigkeit vermeiden

Die Corona-Krise hat viele Schwächen Europas offenbart. Lektionen
daraus will die WHO Europa nutzen, damit sich die Szenen vom Frühjahr
nicht wiederholen. Die Organisation will eine bestimmte Altersgruppe
ins Boot holen.

Kopenhagen (dpa) - Das Europa-Büro der Weltgesundheitsorganisation
(WHO) sieht den Kontinent deutlich besser im Kampf gegen das
Coronavirus aufgestellt als zu Beginn der Pandemie. Der Ausbruch im
Frühjahr habe sowohl Stärken als auch Schwächen der Region
offengelegt, aus denen man bereits jetzt wichtige Erkenntnisse ziehe,
sagte WHO-Regionaldirektor Hans Kluge am Dienstag der Deutschen
Presse-Agentur in Kopenhagen. Auch wenn sich die Lage im Winter
verschlechtern werde, könne man auf diesen Erfahrungen aufbauen.
Zugleich warnte er vor einer Corona-Müdigkeit und einem zunehmenden
Mangel an Vertrauen in die Wissenschaft.

Entscheidend sei unter anderem, den Sorgen der Menschen zu begegnen
und die Gesundheit gleichzeitig weit oben auf die politische Agenda
zu setzen, sagte Kluge. «Wir müssen eine Covid-Müdigkeit vermeiden.
»
Das gelte ganz besonders dabei, die Jüngeren der Gesellschaft im
Corona-Kampf an Bord zu holen. Man müsse sich klarmachen, dass
Jugendliche wegen der Pandemie einen Sommer ihres Lebens verpasst
hätten. «Viele junge Leute haben das Gefühl, dass die Pandemie für

sie mit einem geringen Risiko und hohen Kosten kommt.» Für den daraus
entstehenden Frust müsse Verständnis aufgebracht werden.

Zugleich müsse man gemeinsam mit der jungen Generation nach Lösungen
suchen, ohne Verbote auszusprechen, sagte Kluge. «Wir dürfen nicht
sagen: Tut dies nicht, tut das nicht.» Vielmehr müsse man Wege
finden, soziale Kontakte auf sichere Weise zu pflegen. «Sozialer
Umgang ist so wichtig, um Einsamkeit zu verhindern.» Das Gefühl des
Alleinseins sei bereits vor der Corona-Pandemie eine der größten
Sorgen der Jüngeren gewesen.

Kluge rechnet damit, dass die derzeit zunehmenden Infektionszahlen in
Europa in den kommenden Monaten weiter steigen werden. Dennoch blieb
der Belgier optimistisch. «Heute im September ist nicht gestern im
Februar. Im Februar haben wir die Gesellschaft, die Schulen, ins
Visier genommen. Jetzt nehmen wir das Virus ins Visier. Das ist die
gute Nachricht.» Dass man unmittelbar über erneute nationale
Lockdowns nachdenken müsse, glaube er nicht.

Besonders eine Erkenntnis sei entscheidend, unterstrich Kluge. «Die
unbezahlbare Lektion, die wir in den vergangenen neun Monaten gelernt
haben, ist die grundsätzliche Bedeutung eines starken
Gesundheitssystems, das auf einer medizinischen Grundversorgung und
dem Engagement der Gemeinschaft basiert.» Eine Reihe von Ländern sei
hart getroffen worden, wo es eine chronische Unterfinanzierung des
Gesundheitssystems und Kosteneinsparungen bei den Beschäftigten gab.

Ältere Menschen und ihre Betreuer seien vielerorts im Stich gelassen
worden, sagte er. Dass die Todesrate derzeit trotz steigender
Infektionszahlen weitaus geringer ist als zur Hochphase im Frühjahr,
weise darauf hin, dass man daraus gelernt habe.

Wichtig sei auch eine klare Kommunikation, die das öffentliche
Vertrauen stärken müsse. «Was mich beunruhigt, ist der
Vertrauensverlust in die Wissenschaft. Wenn die Leute nicht mehr an
die Wissenschaft glauben, dann ist das nicht gut.» Viel Widerstand
gegen die Corona-Maßnahmen sei auf Missverständnisse und falsche
Kommunikation zurückzuführen.

Zugleich bleibe er optimistisch, dass es Impfstoffe gegen das
Coronavirus geben werde - wann genau, das lasse sich nicht
abschätzen, sagte Kluge. «Man kann die Entwicklung eines Impfstoffs
nicht erzwingen und Sicherheit und Standards übergehen. Da gibt es
keine Abkürzung.»