Virologe Streeck: Nicht nur auf reine Ansteckungszahlen schauen

Nach Wochen mit steigenden Fallzahlen hat sich die Corona-Lage in
Deutschland zuletzt stabilisiert. In dieser Situation machen
Experten, unter anderem der Virologe Hendrik Streeck, Vorschläge zum
künftigen Umgang mit der Pandemie.

Berlin (dpa) - Der Virologe Hendrik Streeck regt eine Debatte über
Umfang und Dauer der staatlichen Beschränkungen zur Eindämmung der
Coronavirus-Pandemie an. «Ich plädiere für einen Strategiewechsel»,

sagte der Direktor des Institutes für Virologie und HIV-Forschung an
der Universität Bonn der «Welt am Sonntag». «Wir dürfen uns bei d
er
Bewertung der Situation nicht allein auf die reinen Infektionszahlen
beschränken», sagte er. Zwar steige die Zahl der positiv getesteten
Menschen in Deutschland und Europa signifikant an. «Gleichzeitig
sehen wir aber kaum einen Anstieg der Todeszahlen.»

Der Wissenschaftler ergänzte, gesellschaftlich betrachtet seien
Infektionen mit keinen Symptomen nicht zwangsweise schlimm. «Je mehr
Menschen sich infizieren und keine Symptome entwickeln, umso mehr
sind - zumindest für eine kurzen Zeitraum - immun. Sie können zum
pandemischen Geschehen nicht mehr beitragen.» Streeck sagte, man
könne «das Leben ja nicht pausieren lassen».

Er verwies auf die Bedeutung von Antigen-Schnelltests, mit denen es
möglich sei, eine Infektion innerhalb von wenigen Minuten
festzustellen. Solche Tests seien nur Momentaufnahmen, genügten aber,
wenn Pflegepersonal in Heimen und Kliniken regelmäßig getestet würde,

sagte Streeck. Perspektivisch könnten auch Besucher auf diese Weise
getestet werden. «Man mag sich eine Security-Schleuse am Eingang des
Pflegeheims vorstellen. Es wird getestet, und ein Ergebnis liegt
innerhalb von zehn bis fünfzehn Minuten vor. Menschen würden so nicht
weggesperrt, aber viel besser geschützt.»

Zahlreiche solcher Tests befinden sich derzeit in Entwicklung, einige
sind bereits erhältlich. Der Schweizer Pharmakonzern Roche hat
angekündigt, noch im September einen Antigen-Test auf den Markt zu
bringen, der laut Hersteller-Angaben mit hoher Genauigkeit eine
Infektion erkennt. Die Zahlen für diesen Tests hörten sich gut an,
sagte kürzlich Matthias Orth, Chefarzt des Instituts für
Laboratoriumsmedizin im Marienhospital in Stuttgart. Grundsätzlich
seien solche Schnelltests aber mit Bedacht zu bewerten. «Ein
Antigen-Test ist nie so genau wie ein PCR-Test.» Schnelltests seien
in manchen Bereichen eine sinnvolle Ergänzung, könnten aber die
PCR-Testung nicht ersetzen.

Im Hinblick auf den künftigen Umgang mit der Coronavirus-Pandemie
hatte der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité
kürzlich Vorschläge für die Isolierung infizierter Personen und die
Quarantäne von Verdachtsfällen gemacht. Infizierte sollten ab dem
Zeitpunkt der Diagnose noch fünf Tage in Heimisolierung gehen. «Dann
erfolgt eine Testung und bei niedriger Viruslast eine Aufhebung der
Isolierung.» Dies gelte bei milden Fällen mit geringem Risiko der
Verschlechterung.

Bei Verdacht auf eine Infektion, also wenn jemand keine Symptome hat
und noch nicht getestet wurde, gebe es derzeit auf EU-Ebene
Diskussionen, die Quarantäne Zeit von 14 auf 10 Tage zu verkürzen.
«Ich denke, das geht. Ich kann mir auch vorstellen, dass man sogar
noch ein paar Tage weiter reduzieren kann, zum Beispiel auf sieben
Tage.» Einige Infektionen würde man dann verpassen. «Wie viele
verpasste Infektionen man zulassen will, ist eine politische
Entscheidung.»

Auch Gérard Krause vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung
befürwortet eine Verkürzung der Quarantäne. «Wie lange genau häng
t
davon ab, wie viel Sicherheits- bzw. Gewissheits-Bedürfnis die
Behörden haben.» Das gelte aber nur für asymptomatische
Kontaktpersonen.

In Deutschland ist die Zahl der Todesfälle im Verhältnis zur Zahl der
Infektionen gegenwärtig rückläufig. Das Robert Koch-Institut (RKI)
führt das darauf zurück, dass sich zuletzt vor allem jüngere Menschen

angesteckt haben, bei denen es selten zu schweren Verläufen kommt.
Eine Zunahme der Infektionen, insbesondere bei älteren und
gefährdeten Menschen, müsse dennoch vermieden werden. Nach einem
Anstieg der Fallzahlen seit Mitte Juli, hat sich die Situation laut
RKI zuletzt stabilisiert.