Europa zuerst? Wie der erhoffte Corona-Impfstoff verteilt wird Von Verena Schmitt-Roschmann, dpa

Erst mit einem Impfstoff gegen Corona kann sich unser Leben wieder
normalisieren, davon ist nicht nur die Kanzlerin überzeugt. In Europa
wird das im Idealfall in einigen Monaten beginnen. Aber kriegen
ärmere Länder etwas ab?

Brüssel (dpa) - Europa ist vorne mit dabei. Sobald ein
Corona-Impfstoff auf dem Markt ist, dürften Deutsche und andere
EU-Bürger zu den ersten gehören, die sich vor dem gefährlichen und
wirtschaftlich verheerenden Virus schützen lassen können. Mehrere
Hersteller machen Hoffnung, dass es noch dieses Jahr soweit sein
könnte, darunter das Mainzer Unternehmen Biontech. Im Idealfall will
es schon im Oktober die Zulassung für seinen Impfstoff beantragen.

Die Prognose ist unsicher - das zeigt der Rückschlag beim Hersteller
AstraZeneca, der wegen gesundheitlicher Probleme eines Probanden
seine klinischen Tests vorerst stoppen musste. Klar ist aber: Die
Hoffnung auf eine Lösung für die globale Katastrophe wächst. Nicht
nur Bundeskanzlerin Angela Merkel sagt: «Es wird nicht so wie früher,
solange wir keinen Impfstoff und kein Medikament haben.» Wer aber
bekommt die knappen Arzneien, sobald es sie gibt?

Die «America-First»-Regierung unter US-Präsident Donald Trump hat
immer wieder für Empörung gesorgt, weil sie sich Berichten zufolge
exklusiv Zugang zu Impfstoffen sichern wollte. Zuerst hieß es, Trump
wolle mit diesem Ziel den Tübinger Impfstoff-Pionier Curevac kaufen.
Dann gab es Wirbel um die Ansage von Sanofi-Generaldirektor Paul
Hudson, dass die USA bei einem Impfstoff seiner Pharmafirma Vorrang
hätten. Kein Land investiert so viel in die Impfstoff-Entwicklung wie
die USA. Der von der Weltgesundheitsorganisation WHO getragenen
Initiative Covax für eine faire Verteilung der Mittel auch an arme
Länder erteilte Washington aber vor wenigen Tagen eine Absage.

Die Europäische Union hingegen unterstützt Covax und wirbt schon seit
dem Frühjahr für weltweite Solidarität in der Corona-Pandemie.
Kommissionschefin Ursula von der Leyen startete einen Spendenmarathon
für die «Global Response», der nach Angaben der EU-Kommission Zusagen

von 15,9 Milliarden Euro für Tests, Medikamente, Impfstoffe und
andere Corona-Abwehrmaßnahmen einbrachte. Die EU-Kommission selbst
sagte 1,4 Milliarden Euro zu.

Für Covax versprach die Kommission Ende August noch einmal 400
Millionen Euro Haftungsgarantien. Am Donnerstag bekräftigte von der
Leyen zusammen mit WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus das
Ziel eines «Zugangs zu Coronavirus-Impfstoffen, Tests und
Behandlungen für alle, die sie brauchen, egal wo».

Doch werden Menschen in Kenia, Vietnam oder Tuvalu wirklich genauso
schnell an Impfstoff kommen wie Deutsche oder Franzosen? «Im
Idealfall» wäre das so, sagen EU-Beamte. «Ob wir uns dazu
verpflichten können, ist eine andere Frage.» John Nkengasong, Leiter
der panafrikanischen Gesundheitsorganisation Africa CDC, warnt klar,
dass Afrika ins Hintertreffen geraten könnte: «Ich bin besorgt und
beunruhigt.»

Tatsächlich bemüht sich eben auch die EU um den besten Startplatz im
Rennen um den Impfstoff. Die EU-Kommission verhandelt seit Monaten
mit Pharmafirmen über exklusive Bezugsrechte für die
aussichtsreichsten Impfstoff-Kandidaten. Der erste Vertrag über bis
zu 400 Millionen Impfdosen wurde Ende August mit dem Vorreiter
AstraZeneca unterzeichnet. Die Firma erhält nach Angaben der
Kommission dafür 336 Millionen Euro Vorkasse.

Die Sondierung für einen ähnlichen Vertrag mit der Mainzer Biontech
wurde am Mittwoch abgeschlossen: Die Firma könnte bis zu 300
Millionen Dosen liefern. Gespräche gab es zudem mit den Herstellern
Sanofi-GSK, Johnson & Johnson, CureVac and Moderna.

Noch ist keiner der Impfstoffe abschließend getestet oder in Europa
zugelassen. Sobald es aber soweit ist, sollen die 27 EU-Staaten
sofort Zugriff bekommen, das ist die Strategie. Das sei angesichts
der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie wichtig, sagen EU-Beamte. In
der EU sollen die Bezugsrechte für die ersten Impfstofflieferungen
nach Bevölkerungszahl verteilt werden: Alle beteiligten EU-Staaten
sollen bestimmte Mengen kaufen können. Deutschland stellt 18,6
Prozent der EU-Bevölkerung, wäre also mit einem knappen Fünftel
dabei. Die Regierungen müssten dann eine Art Rangfolge aufstellen und
zum Beispiel zunächst Risikogruppen wie Beschäftigte im
Gesundheitswesen oder Ältere impfen.

Sollte sich die Hoffnung auf erste zugelassene und sichere Impfstoffe
noch dieses Jahr erfüllen, würde es in Europa einige Monate dauern,
bis eine nennenswerte Zahl von Bürgern immunisiert wäre. Der
CDU-Europaabgeordnete und Arzt Peter Liese schätzt, dass eine
Impfrate von 20 bis 30 Prozent helfen würde, «den Horror zu nehmen».

Im Frühjahr 2021 könnte sich die Lage spürbar verbessert haben, meint

Liese.

Bis Covid-19 weltweit eingedämmt wird, dürfte es deutlich mehr Zeit
brauchen. Covax hat sich zwar zum Ziel gesetzt, bis Ende 2021
mindestens zwei Milliarden Impfdosen bereitzustellen. Bei zweimaliger
Impfung würde das rechnerisch aber erst für rund eine Milliarde
Menschen reichen, also 13 Prozent der Weltbevölkerung von knapp 7,8
Milliarden Menschen. Die Mittel wirklich sicher und gekühlt bis in
entlegene Dörfer zu bringen, wird zudem ein logistischer Kraftakt.

Obwohl die EU also im Impfstoff-Rennen vorne liegen dürfte, will sie
sich keinesfalls mit Trumps «America-First»-Politik in einen Topf
werfen lassen. Der AstraZeneca-Vertrag etwa sehe vor, dass EU-Staaten
von ihren Kontingenten Impfstoffe an ärmere Länder spenden können,
betonen EU-Beamte. Covax erhalte eigene Bezugsrechte. Und das
politische Bekenntnis zur weltweiten Solidarität ist klar: «Niemand
ist sicher, bevor alle sicher sind», twitterte von der Leyen zuletzt.

Gesundheitspolitiker Liese gesteht das Dilemma jedoch ein. Weltweite
Kooperation sei wichtig, sagt der EU-Abgeordnete, aber: «Die
europäischen Bürger haben das Recht, dass wir genug Impfstoff für sie

haben. Ich wünschte, ich hätte eine Patentlösung, aber so einfach ist

es nicht.»