Corona-Politik von Vucic treibt erboste Serben auf die Straße Von Boris Babic und Gregor Mayer, dpa

Tausende machen auf der Straße ihrer Wut über die Pandemie-Maßnahmen

der Regierung Luft. Kleine Gruppen von Hooligans greifen gezielt die
Polizei an und provozieren bildstarke Straßenschlachten. Mancher
fragt: Wem nützt das?

Belgrad (dpa) - Den zweiten Tag in Folge haben sich militante
Demonstranten am Mittwochabend in der serbischen Hauptstadt Belgrad
Straßenschlachten mit der Polizei geliefert. Daneben protestierten
Tausende Bürger in Belgrad und anderen serbischen Städten friedlich
gegen die Corona-Maßnahmen des mächtigen Präsidenten Aleksandar
Vucic. Die EU-Kommission rief angesichts der Unruhen zur Deeskalation
auf. «Die Entwicklungen, die wir seit zwei Tagen verfolgen, bieten
Anlass zu Besorgnis», sagte eine Sprecherin am Donnerstag in Brüssel.


Auch in Zeiten der Corona-Pandemie dürften Grundrechte und Freiheiten
nicht unverhältnismäßig eingeschränkt werden. Gleichzeitig müsse
die
öffentliche Ordnung aufrechterhalten werden. Der Einsatz von Gewalt
müsse aber immer angemessen und verhältnismäßig sein, sagte die
Kommissionssprecherin weiter.

Die Militanten lösten sich bei den Protesten in Serbien von den
friedlichen Demonstranten ab und suchten den Konflikt mit der
Polizei, wie die Zeitung «Danas» am Donnerstag berichtete. Die
Radikalen, zumeist aus dem Milieu der Fußball-Hooligans stammend,
warfen Steine und Feuerwerkskörper auf die Polizisten. Diese trieben
die Menge mit Tränengas und Schlagstöcken auseinander. Dabei schlugen
die Beamten auch auf friedliche Demonstranten ein. Manche von ihnen
lagen bereits am Boden, wie Augenzeugen berichteten.

Zwei Journalistinnen und ein Journalist, die sich als Vertreter ihres
Berufes auswiesen, wurden von Polizisten misshandelt. Fernsehsender
zeigten Live-Bilder von chaotischen Szenen. Der Geruch von Tränengas
hielt sich noch für Stunden in den Straßen der Innenstadt.
Krankenhausärzte sprachen von Dutzenden Verletzten unter
Demonstranten und Polizisten. Am Donnerstagmorgen war die Lage wieder
ruhig.

Auslöser der Protestwelle war eine Ankündigung von Präsident Vucic
vom Dienstag, wegen der zuletzt stark gestiegenen Zahl von
Ansteckungen mit dem Coronavirus eine Ausgangssperre über das gesamte
kommende Wochenende zu verhängen. Am Dienstagabend, dem ersten
Protesttag, drangen Militante kurzzeitig sogar ins Parlamentsgebäude
ein, vor dem Menschen demonstriert hatten. Nach dem ersten Protest am
Dienstag zog Vucic seine Ausgangssperren-Ankündigung am Mittwoch
wieder zurück. Dennoch gingen die Menschen erneut auf die Straße.

Ihr Protest richtet gegen die inkonsequente und widersprüchliche
Politik Vucics bei der Bekämpfung der Pandemie. Von Mitte März bis
Anfang Mai hatte er einen Ausnahmezustand verhängt, der umfassende
Ausgangssperren und drakonische Strafen für Verstöße gegen
Bewegungsverbote und Quarantäneauflagen einschloss. Die Maßnahmen,
die viel härter waren als etwa in den Nachbarländern Kroatien und
Ungarn, waren unbeliebt. Sie führten aber zu einer signifikanten
Eindämmung der Pandemie.

Ende Mai hob Vucic den Ausnahmezustand auf und setzte die im April
geplante und verschobene Parlamentswahl für den 21. Juni an. Seine
Regierungspartei SNS gewann sie - unter dem Boykott der meisten
Oppositionskräfte - haushoch. Mit dem Ende des Ausnahmezustands
fielen praktisch übergangslos alle bisherigen Einschränkungen. Es gab
Wahlkampf auf öffentlichen Plätzen, Fußballspiele vor bis zu 20 000
Zuschauern, die Nachtgastronomie durfte wieder öffnen.

Seit etwa zwei Wochen stecken sich in Serbien wieder durchschnittlich
300 Menschen am Tag mit dem Coronavirus an. Besonders die Hauptstadt
Belgrad ist betroffen. Am Dienstag hatte Vucic davon gesprochen, dass
dort die Krankenhäuser bereits an den Grenzen ihrer Kapazitäten
angelangt seien.

Die Regierung beeilte sich, die Proteste als «Putschversuch» und als
Ergebnis einer angeblichen Wühlarbeit nicht näher bezeichneter
ausländischer Mächte darzustellen. «All dies ist nur als nackte
Gewalt zu bezeichnen, die darauf abzielt, die Macht zu übernehmen»,
erklärte Innenminister Nebojsa Stefanovic in der Nacht zum
Donnerstag.

Der Politologe Vuk Velebit wies darauf hin, dass die spektakulären
Gewaltakte auf gezielte Provokationen militanter Gruppen
zurückgingen. «Ich war selbst die ganze Zeit auf der Straße, und es
schien, als hätten sich diese Gruppen auf Befehl in bestimmten
Straßen versammelt und die Zusammenstöße mit der Polizei
herausgefordert», sagte er am Donnerstag dem Nachrichtensender
N1. Nutznießer der Krawalle sei die Regierung von Vucic. Die
Polizeigewalt gegen Demonstranten und die unschönen Bilder von
gewalttätigen Hooligans könnten die Funktion haben, noch mehr Bürger

von der Teilnahme an Protesten abzuhalten, fügte Velebit hinzu.