Pubs in England öffnen wieder - «Zirkus voller betrunkener Clowns» Von Silvia Kusidlo, dpa

Die Menschen in England dürfen am Wochenende erstmals seit über drei
Monaten wieder in die Pubs. Wird es ein geselliges Zusammensein oder
droht London und anderen Städten ein komplettes Chaos?

London (dpa) - Cheers! Für viele Engländer hört am Samstag eine
monatelange Leidenszeit auf. Denn in der Corona-Krise haben sie vor
allem eines vermisst: ihren Pub. Nach mehr als drei Monaten ist nun
ein Pint nach Feierabend in den urig-gemütlichen Kneipen wieder
möglich. Doch was viele Briten freut, lässt Polizei, etliche
Politiker und Mediziner die Haare zu Berge stehen: Sie warnen vor
Gewalt und Zuständen in Notaufnahmen wie in einem «Zirkus voller
betrunkener Clowns». Das Virus könnte sich auch schneller ausbreiten.

Scotland Yard hat vorsichtshalber die Zahl der Einsatzkräfte in der
Hauptstadt für das Wochenende stark erhöht. «Verhalten Sie sich
ruhig. Seien Sie sensibel. Passen Sie auf sich und Ihre Familie auf»,
warnte Polizei-Chefin Cressida Dick in London. In den vergangenen
Wochen hatte es die Einsatzkräfte im wahrsten Sinne des Wortes hart
getroffen. Bei Demonstrationen gegen Rassismus und der Auflösung
illegaler Straßenpartys flogen ihnen Flaschen und Feuerwerkskörper
entgegen. Dutzende Polizisten erlitten Verletzungen.

Viele hätten es lieber gesehen, wenn die Pubs im größten britischen
Landesteil nicht an einem Wochenende öffnen würden. «Wir haben dann
mehr Gewalt, Störungen auf Straßen, sexuelle Übergriffe, Vermisste
und Verletzte, die möglicherweise medizinische Hilfe benötigen»,
sagte der Chef des Polizeiverbandes West Yorkshire, Ian Booth,
voraus. Er und viele Kollegen hätten daher einen Werktag bevorzugt.

Der Bier- und Pubverband dürfte hingegen froh sein, dass überhaupt
wieder etwas aus den Zapfhähnen strömt. Er hatte den Verlust
Hunderttausender Arbeitsplätze befürchtet. Schon zuvor ging es der
Branche nicht gut. Sie beklagt seit Jahren ein Pub-Sterben vor allem
auf dem Lande, bedingt unter anderem durch zu hohe Biersteuern. Nun
könnten die Besucher allein am ersten Wochenende Schätzungen zufolge
210 Millionen Pfund (etwa 231 Millionen Euro) ausgeben.

Was fasziniert die Menschen so sehr an den Pubs? Viele der Kneipen
sind jahrhundertealt. Verklebter Tresen, alte Holzbohlen,
biergeschwängerte Luft, Fish und Chips, Burger oder Pies auf der
Speisekarte - all das zeichnet einen Pub aus. Der Begriff stammt vom
Public House ab, einem der Öffentlichkeit zugänglichen Haus. Der
Parlamentarier kann im Pub neben einer Studentengruppe sein Ale
süffeln. Klassenunterschiede verschwimmen hier.

Gewöhnen müssen sich die Briten aber an neue Sicherheitsmaßnahmen:
Menschentrauben an der Theke soll es zum Beispiel nicht mehr geben.
Bestellungen werden künftig am Tisch oder per App abgegeben.
Kontaktdaten der Besucher werden vorübergehend gespeichert.

Die Öffnung der altehrwürdigen Pubs ab Samstag gilt nur für England.

Denn jeder Landesteil in Großbritannien entscheidet über seine
eigenen Maßnahmen im Kampf gegen die Pandemie. Das führt zu so
mancher Kuriosität, etwa im Städtchen Saltney. Die eine Hälfte des
Ortes liegt in Wales und hat drei Kneipen. Die andere Seite gehört
schon zu England und verfügt nur über einen einzigen Pub: Im «Brewery

Arms» dürften die Kassen ab Samstag ordentlich klingeln.

Die Pubs sind nur ein Baustein in einer längeren Liste von
Lockerungen, die Premierminister Boris Johnson für den 4. Juli
angekündigt hat. So dürfen auch Restaurants, Hotels, Friseurläden,
Kirchen, Museen und Galerien unter Auflagen öffnen. Die Wirtschaft
jubelt, viele Briten sind heilfroh über das Angebot, aber etliche
Wissenschaftler sorgen sich: Sie halten das Bündel von Lockerungen
für verfrüht und sehen die Eindämmung der Pandemie in Gefahr.

Die Stadt Leicester könnte ein warnendes Beispiel sein: Hier musste
die Regierung kürzlich die Maßnahmen im Kampf gegen das Coronavirus
wieder verschärfen. Die Fallzahlen waren wieder deutlich gestiegen.