Verkehrsmittel der Stunde: Ansturm auf Radläden nimmt kein Ende

Das Fahrrad ist auf dem Weg zum Krisengewinner. Im Gegensatz zu
vielen anderen Einzelhändlern können sich Radgeschäfte vor Kunden
kaum retten. Nach einem vermiesten Saisonstart geht es nun kräftig
aufwärts.

Berlin (dpa) - Der Fahrrad-Boom in der Corona-Krise hält unvermindert
an. «Der Mai war der stärkste Monat, den die Branche jemals erlebt
hat», sagte David Eisenberger vom Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) der
Deutschen Presse-Agentur. Ihm zufolge habe ein Großteil der
Hersteller die coronabedingten Einbußen wieder aufgeholt. Er gehe
inzwischen davon aus, dass die Umsätze auf Vorjahresniveau liegen
werden - vorausgesetzt, es gäbe keinen neuerlichen Lockdown.

Zugleich hätten Hersteller und Händler mit Engpässen und
Verzögerungen zu kämpfen. Vor allem bei Einstiegsrädern und E-Bikes
seien einzelne Modelle vergriffen, sagt der Verbandssprecher.
Spürbaren Mangel gebe es auch bei Kinderrädern. «Es wird mit
Hochdruck nachproduziert, aber bei den Herstellern gibt es ebenfalls
Einschränkungen durch Hygieneauflagen.» Es sei empfehlenswert,
mehrere Händler anzusteuern und sich außerhalb der Ballungsgebiete
umzuschauen, rät Eisenberger.

Möglicherweise stehen die größten Lieferengpässe aber noch bevor.
«Der Ausfall asiatischer Vorlieferanten wird erst in ein bis zwei
Monaten richtig relevant werden», meint Tobias Hempelmann vom Verband
des Deutschen Zweiradhandels (VDZ) und selbst Radhändler. Auch ohne
Corona-Krise sei 2020 wetterbedingt ein Super-Radjahr. Weil aber
gerade in Städten viele Menschen auf das Rad umgestiegen seien und
den öffentlichen Nahverkehr meiden, sei die Nachfrage enorm
gestiegen. Der Trend zu Urlaub im eigenen Land tue sein Übriges. «Die
Branche arbeitet an der Grenze des Machbaren», so der Händler aus
Nordrhein-Westfalen, für den 80-Stunden-Wochen derzeit Normalität
sind.

«Die Kollegen in den Fahrradgeschäften machen Überstunden wie nichts

Gutes», bestätigt Albert Herresthal vom Verbund Service und Fahrrad,
der ebenfalls den Fachhandel vertritt. Die Umsätze seien je nach
Ladentyp und Region unterschiedlich. «Wir liegen aber größtenteils
überall im Plus.» Wann sich die Lage mit Blick auf gestörte
Lieferketten und daraus resultierende Engpässe wieder komplett
normalisiere, sei noch nicht absehbar. Die Verbände rechnen damit
aber nicht vor Ende des dritten Quartals.

Auch der Traditionshersteller Diamant aus dem sächsischen
Hartmannsdorf kann sich vor Aufträgen kaum retten. «Der Mai war unser
stärkster Monat in der freien Marktwirtschaft», meint Brand Manager
Thomas Eichentopf. Das Unternehmen - seit 135 Jahren am Markt - habe
teilweise die Einführung neuer Modelle vorgezogen und stelle
inzwischen gar neue Mitarbeiter ein.

Selbst kleine Manufakturen profitieren: Das Unternehmen my Boo baut
Bambusfahrräder. Die handgefertigten Rahmen entstehen im Rahmen eines
sozialen Projekts in Ghana, montiert werden die Räder in Kiel. «Nach
einer kleinen Delle zu Beginn der Corona-Krise hat die Nachfrage
spürbar angezogen», berichtet Mitgründer Jonas Stolzke. Er betreibt
außerdem drei Radgeschäfte in der Region, darunter einen reinen
E-Bike-Laden. Die Verkaufszahlen in diesem Segment hätten sich
gegenüber 2019 nahezu verfünffacht.

Bei der Infrastruktur kommt der Wandel hingegen nur sehr langsam in
Gang, kritisiert der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC).
Schnelle Lösungen wie die etwa 20 Kilometer «Pop-up-Bike-Lanes» in
Berlin, also kurzfristig eingerichtete Radwege, hätten bundesweit nur
eine Handvoll Nachahmer gefunden. «Der Bedarf nach mehr und besseren
Radwegen war schon vor Corona da - die Engpässe verschärfen sich
jetzt durch den Corona-Radboom», sagt ADFC-Sprecherin Stephanie
Krone.