Philosoph Sloterdijk: Plötzlich kann Politik Prioritäten setzen

Wien (dpa) - Der Philosoph Peter Sloterdijk sieht in der Coronakrise
den Staat als Handelnden wiedererwacht. Zuvor habe sich die Politik
als von Sachzwängen getrieben dargestellt. «Jetzt kommt etwas heraus,
was den Politikern gar nicht so lieb sein dürfte, nämlich die
effektive Handlungsfähigkeit des Staates», sagte Sloterdijk der
österreichischen Nachrichtenagentur APA. Der Versuch der Eindämmung
der Pandemie sei eine ungeheure Demonstration der Fähigkeit gewesen,
eine Prioritätenliste aufzustellen. Die Sorge um den Haushalt sei
dabei ganz weit in den Hintergrund gedrängt worden. Früher habe man
gesagt: «Wir können uns nichts leisten, das wir nicht auch bezahlen
können. Heute können wir alles bezahlen - mit Scheingeld. Wir haben
die Realität ausgetrickst.»

Die Erfahrungen des Lockdowns seien möglicherweise lehrreich für die
Bürger gewesen, so der 73-Jährige weiter. Die Menschen dürften
verstanden haben, dass sie eine Machtprobe des scheinbar sanften
postmodernen Verwaltungsstaates erlebt hätten. «Wir haben einen
zehnwöchigen sanitären Staatsstreich in den Knochen. Staatsstreich
insofern, als Notstandsmaßnahmen verfügt worden sind, wie sie zu
einem Ausnahmezustand gehören», sagte Sloterdijk. Er glaube, dass es
für viele Bürger im Westen eine ganz heilsame Erfahrung gewesen sei,
zu sehen, dass der Staat nicht nur als oberster Garant der
Steuereintreibung funktioniere. «Ich glaube, das ist gar nicht so
schlecht, weil es eine Lektion in Demokratiekunde enthält.»

Als Anhaltspunkt für die Normalität sieht Sloterdijk das
Konsumverhalten. «Volle Normalisierung tritt erst ein, wenn die Leute
wieder in der Stimmung sind, in der sie Überflüssiges kaufen.»