Mehr als 1300 Corona-Fälle in Fleischfabrik - Tönnies unter Druck Von Martin Romanczyk, dpa

Der Corona-Ausbruch mit mehr als 1300 Infizierten in einer
Fleischfabrik stellt NRW-Ministerpräsident Laschet vor eine
Herausforderung. Die Behörden versuchen, die Infektionskette zu
unterbrechen. In der Kritik steht der Unternehmer Clemens Tönnies.

Gütersloh/Berlin (dpa) - Nach dem Corona-Ausbruch mit mehr als 1300
Infizierten in einer Fabrik des Fleischkonzerns Tönnies bleiben dem
Kreis Gütersloh drastische Einschränkungen des Alltags vorerst
erspart. Nach einer Krisensitzung stellte Nordrhein-Westfalens
Ministerpräsident Armin Laschet jedoch klar, dass ein regionaler
Lockdown weiter eine Option sei, um die Infektionen unter Kontrolle
zu bekommen. In der Kritik von Politik und Verbraucherschützern
stehen der Unternehmer Clemens Tönnies sowie die Branche insgesamt -
der Vorwurf: Ungesunder Preiskampf bei Fleisch zu Lasten der
Beschäftigten, der Landwirte und des Tierwohls.

Es gebe «ein enormes Pandemie-Risiko», warnte Laschet am Sonntag in
Gütersloh. Das Infektionsgeschehen sei jedoch bei der Firma
lokalisierbar, und es gebe keine Infektionskette in die übrige
Bevölkerung der Region. Sein Kabinett war zu einer Krisensitzung
zusammengekommen.

Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach hält die Entscheidung für
falsch. «Der Ausbruch blieb so lange unentdeckt, dass er sich längst
auf die Bevölkerung ausdehnen konnte», twitterte er.

Lokale Ausbrüche wie im Kreis Gütersloh bestimmen weiterhin das
Infektionsgeschehen in Deutschland. Insgesamt haben die lokalen
Behörden dem Robert Koch-Institut (RKI) 687 Neuinfektionen binnen
eines Tages gemeldet, wie das RKI meldete (Datenstand 21.06., 0.00
Uhr). Die Zahl der Neuinfektionen liegt deutlich über den Werten, die
bis etwa Mitte Juni täglich gemeldet wurden.

Die Zahl der Infizierten in der Fabrik in Rheda-Wiedenbrück stieg bis
Sonntag nach Angaben des Kreises auf 1331. Die Tests auf dem Gelände
der Firma seien am Samstag abgeschlossen worden, hieß es. Insgesamt
6139 Tests seien gemacht worden, 5899 Befunde lägen zunächst vor, bei
4568 Beschäftigten sei das Virus nicht nachgewiesen worden.

In den vier Krankenhäusern im Landkreis werden derzeit 21
Covid-19-Patienten stationär behandelt. Davon liegen 6 Personen auf
der Intensivstation, zwei von ihnen müssen beatmet werden. Fünf der
sechs sind nach Angaben des Kreises Tönnies-Beschäftigte.

Laschet warnte Tönnies-Beschäftigte aus anderen Ländern vor einer
überstürzten Abreise in ihre Heimat und versprach «bestmögliche
medizinische Behandlung» in Deutschland. Es würden so viele
Dolmetscher wie möglich in die Unterkünfte der Beschäftigten
geschickt. Das Problem sei, dass diese auf 1300 Liegenschaften
verteilt seien. Drei Hundertschaften der Polizei unterstützten die
Ordnungsämter dabei, die Quarantäne aller rund 6500 Mitarbeiter
durchzusetzen.

Der Regierungschef nahm wie auch Vertreter der Botschaften Rumäniens,
Polens und Bulgariens an einer Sitzung des Krisenstabs im Kreis
Gütersloh teil.

Die Politik sieht parteiübergreifend Handlungsbedarf. «Fleisch ist zu
billig», sagte Bundesagrarministerin Julia Klöckner (CDU) der
Deutschen Presse-Agentur. Sie setzt sich daher nun auch für eine
Tierwohlabgabe ein, die auf Fleisch, Wurst und anderes aufgeschlagen
werden könnte. «Dabei soll Fleisch kein Luxusprodukt für Reiche
werden. Aber auch keine Alltagsramschware.»

Grünen-Chef Robert Habeck sagte der dpa: «Wir müssen hin zu einer
Tierhaltung, die am Wohle der Tiere ausgerichtet ist und nicht einzig
und alleine auf Dumping-Preise und Wettbewerbslogiken.»

«Ein höherer Preis durch eine neue Fleischsteuer oder Tierwohlabgabe
garantiert leider keine bessere Qualität, kein höheres Tierwohl oder
Arbeitssicherheit in Schlachtereien», sagte der Chef des
Verbraucherzentrale Bundesverbands (vzbv), Klaus Müller, der
«Rheinischen Post».

NRW-Ministerpräsident Laschet richtete sich direkt an das
Unternehmen. «Wir werden auch Herrn Tönnies beim Wort nehmen, dass er
gesagt hat, es kann keinen Zustand geben wie zuvor. Wir brauchen neue
Regeln, neue Bedingungen - und das ist auch das, was wir vom
Unternehmen erwarten», sagte Laschet.

Klöckner kritisierte die Zentralisierung der Schlachtbranche. «Wie
man sieht, hat Größe dann einen Negativpreis.» Landwirte müssten vo
n
ihrer Arbeit leben können, auch um Ställe umzubauen.

Unionsfraktionsvize Georg Nüßlein (CSU) forderte ein Ende der
Preiswerbung für Fleisch. Der wöchentliche Preiskampf der Supermärkte

sei «unanständig». Der SPD-Agrarpolitiker Rainer Spiering sagte der
dpa: «Dass Fleisch derartig verramscht wird, hat mit dem Verramschen
von Arbeitskräften zu tun.»