Europäische Verfassungsexperten kritisieren Putins neues Grundgesetz

Straßburg/Moskau (dpa) - Die von Kremlchef Wladimir Putin initiierte
Verfassungsänderung in Russland stößt auf Kritik europäischer
Rechtsexperten. Durch das neue Grundgesetz werde das russische
Verfassungsgericht nicht nur anfällig für politischen Druck, weil
Richter auf Anweisung des Präsidenten entfernt werden könnten,
kritisierten die Experten der sogenannten Venedig-Kommission. Die
Verfassungsexperten des Europarates, in dem Russland Mitglied ist,
zeigten sich am Donnerstag auch besorgt, weil das Land sich künftig
nicht mehr an Urteile des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte in Straßburg halten könnte.

Demnach regelt die geänderte Verfassung, dass Russland nur noch
Urteile umsetzt, wenn sie nicht gegen das Grundgesetz des Landes
verstoßen. Die Venedig-Kommission forderte die Streichung dieser
Regelung. Russland gehört zu jenen Staaten, gegen die Bürger am
meisten wegen Verletzung ihrer Menschenrechte klagen. Das Land muss
zum Ärger vieler Politiker in Moskau immer wieder hohe Strafen
zahlen. Viele Russen schätzen das Gericht in Straßburg als letzte
Instanz, um Gerechtigkeit zu erhalten.

Die Verfassungsänderung steht vor allem auch in der Kritik, weil sie
Putin weitere Amtszeiten ermöglicht. Er könnte bis 2036 regieren. Die
Opposition wirft ihm einen Verfassungsumsturz vor. Am 1. Juli
entscheidet die Bevölkerung bei einem Referendum über die Annahme des
neuen Grundgesetzes. Wahlbeobachter der unabhängigen Organisation
Golos beklagten bereits vor der Abstimmung massive Verstöße gegen die
Freiheiten der Wähler. Der Staat ignoriere mit seiner überall
präsenten Agitation demonstrativ die Prinzipien der politischen
Neutralität und verhindere Meinungsvielfalt.

Es gebe auch wegen der Corona-Pandemie keine Möglichkeiten
öffentlicher Auseinandersetzung mit den Änderungen, teilte Golos mit.
Massenveranstaltungen wie Proteste sind verboten. Kritiker hätten
keine Chance, sich Gehör zu verschaffen. Zudem kritisierte die
Organisation den Druck auf Staatsbedienstete, beim Referendum ihre
Stimme abzugeben.