Smartphone und Mini-Kamera - Wie Technik Blinden hilft Von Anja Sokolow, dpa

Farblich passende Kleidung zusammenstellen. Den Weg durch die Stadt
finden. Dinge, die für Sehende selbstverständlich sind, waren für
Blinde und Sehbehinderte lange nur schwierig machbar. Inzwischen
erleichtern Smartphones und Tablets ihnen den Alltag immens.

Berlin (dpa) - Für Manfred Scharbach ist das Smartphone zu einem der
wichtigsten Helfer geworden. «Ich höre mit dem Handy sehr gern
Hörbücher», erzählt der 65-Jährige. Auch die Wetter-App nutzt der

Berliner regelmäßig, da er gern mit Freunden segelt. Er kauft
Fahrkarten mit seinem Handy, erledigt Bankgeschäfte oder hört
Internetradio. Eine wichtige Hilfe auch: das Handy als Navi. «Früher

musste man den Weg einfach kennen, da brauchte man Erfahrung»,
erinnert er sich. 

Dank der Voice-Over-Technologie von Apple liest das Handy Scharbach
alles vor, was er auf dem Display berührt. Android-Nutzer kennen di
e
Funktion als «Talkback». «Man ist viel selbstständiger, das m
obile
Internet hat die Möglichkeiten noch einmal deutlich erweitert», sagt
Scharbach im Vorfeld des Tags der Sehbehinderten am 6. Juni.

Der Geschäftsführer des Allgemeinen Blinden- und
Sehbehindertenvereins Berlin bringt mit seinem Team in Kursen auch
anderen Blinden und Sehbehinderten die Technik näher. «Alle
Altersgruppen sind vertreten. Selbst über 80-Jährige wollen lernen,
wie man ein Smartphone bedient», sagt Scharbach. 

Zahlreiche Tipps gibt auch der blinde Ingenieur Marco Zehe aus
Hamburg mit seinem Blog «Marcos Leben». Er schätze die neuen
Möglichkeiten sehr, sagt er. Zum Beispiel sei es auch ihm inzwischen
möglich, selbstständig Filme zu drehen und zu schneiden. Vor ein paar
Jahren sei dies noch undenkbar gewesen - nun ermögliche es Teilhabe
wie noch nie zuvor. «Blinde YouTuber? Heute sehr gut vorstellbar
und es gibt sogar mehrere Beispiele dafür», so der 47-Jährige, der

dort ebenfalls einen Kanal hat. 

«Smartphones und Tablets bieten inzwischen irrsinnige Möglichkeiten
und ihr zunehmender Einsatz in Alltag und Beruf kann zusätzliche
teure Hilfsmittel ersparen», berichtet auch Klaus Rohrschneider. Er
ist Landesarzt für Blinde und Sehbehinderte in Baden-Württemberg und
leitet an der Augenklinik der Universität Heidelberg die größte
Sehbehindertenambulanz in Deutschland. Der Augenarzt beschäftigt sich

seit Jahren mit technischen Hilfsmitteln und kennt die Vor- und
Nachteile der einzelnen Geräte.

Viele Helfer seien sehr einfach zu bedienen, so der Experte. «Die
Geräte haben oft nur einen oder wenige Knöpfe, wie zum Beispiel der
Einkaufsfuchs, ein Produkterkenner mit digitaler Sprachausgabe.» Auch

mobile Lese- oder Farberkennungsgeräte seien recht einfach in der
Handhabung und letzteres sei in seiner Leistung sogar besser als eine
App. 

Es seien vor allem Geräte auf dem Markt, die beim Lesen und Vorlesen
unterstützen wie etwa elektronische Lupen oder Vorlesegeräte. «Das

Lesen und die Texterkennung sind das A und O», so Rohrschneider. Di
e
vielen Einzelhelfer würden aber zunehmend durch multifunktionale
Smartphones ersetzt. 

Er beobachte allerdings, dass ältere Leute für die neue Technik
weniger aufgeschlossen seien als Jüngere. «Bei vielen Älteren
überwiegt das Bedauern des Verlusts dessen, was einmal möglich war»,

so der Arzt mit Blick auf die schwindende Sehkraft. «Der psychische
Faktor wird oft unterschätzt.» 

Doch gerade die älteren Menschen sind häufig betroffen: Laut eine
m
Bericht des Robert Koch-Instituts von 2017 ist gut die Hälfte aller
Blinden und Sehbehinderten älter als 75 Jahre. «Insgesamt gibt es
schätzungsweise 1,2 Millionen Blinde und Sehbehinderte in
Deutschland», so Scharbach. 

Adrian Quint aus Berlin ist gerade einmal elf Jahre alt und vor fünf
Jahren vollständig erblindet. Auch er nutzt sein Smartphone viel,
seit einigen Wochen aber auch eine Kamera, die gerade einmal 22 Gramm
wiegt und an einem Brillenbügel befestigt wird. Die OrCam Myeye liest
ihm Texte aus Büchern, Zeitschriften oder auch ausgedruckte Texte f
ür
ein Referat vor. Dazu muss er die Kamera nur auf den Text richten
oder darauf zeigen. «Sie ist cool», freut sich Adrian, der vorher
viel Hilfe von seiner Mutter benötigte, wenn er Dinge lesen wollte,
die nicht in Blindenschrift verfasst wurden. 

«Die Kamera funktioniert offline und er muss nicht mehr ständig sein
Handy in der Hand haben», sagt Mutter Jasmin Quint. Das Gerät kann
laut Hersteller auch Gesichter und Produkte erlernen, Barcodes
erkennen, Farben und Geldscheine identifizieren. In Deutschland gibt
es laut einer Sprecherin bereits mehrere Tausend Nutzer, die das
Gerät meist als offizielles Hilfsmittel von ihrer Krankenkasse
erstattet bekommen haben. 

«Als Vorlesegerät funktioniert sie sehr gut», sagt auch
Rohrschneider. Allerdings sei das Erkennen von Gebäuden, Schildern
und anderen Objekten für die OrCam Myeye schwieriger. «Bei Tests
mussten wir jeweils vier bis fünf Bilder machen, damit die Kamera die
Objekte erkennt. Man muss sie sehr genau fixieren können», so der
Experte. Das sei gerade für Blinde schwierig. Adrian hat die Kamera
bisher nur beim Lesen getestet.  

Beim Orientieren auf der Straße sind Klassiker wie der Langstock oft
nach wie vor unentbehrlich. «Ein Navi schützt mich nicht davor, die
Treppe hinunterzufallen oder gegen eine Laterne zu laufen», sagt
Manfred Scharbach. Allerdings schütze der herkömmliche Stock ihn auch

nicht vor Gefahren in Kopfhöhe, räumt er ein.

Aber auch hier gibt es Neuerungen wie Laser-Langstöcke oder Stöcke,
die mit Ultraschall arbeiten und Hindernisse auch in Kopfhöhe
rechtzeitig erkennen sollen. Selbst für Schuhe gibt es Warnsysteme:
Sensoren in Einlegesohlen erkennen Hindernisse und geben dem Träger
Warnsignale, zum Beispiel über das Handy und Kopfhörer.