Weltverschwörung am Gartenzaun Von Sebastian Fischer, dpa

Die Corona-Pandemie lässt hanebüchenen Unfug sprießen. Doch über
Berühmtheiten wie Xavier Naidoo landen Verschwörungstheorien nicht
mehr nur in dunklen Internetecken, sondern auch im eigenen Umfeld.

Berlin (dpa) - Die Begegnung in der Berliner Kleingarten-Anlage
dürfte sich so ähnlich unzählige Male in Deutschland abspielen: Ein
als leidenschaftlicher Rosenzüchter geschätzter Gartennachbar kommt
aufgewühlt an den Zaun. «Rund um Corona ist doch eine Riesen-Sauerei
im Gange!» Es folgt ein Monolog mit erhobener Stimme und
schweißgeperlter Stirn.

Vom völlig harmlosen Coronavirus ist die Rede, das aber zugleich von
bösen Mächten im Labor gezüchtet worden sei. Die Kontaktsperren seien

eine Zwangsmaßnahme, um den Deutschen anschließend eine fatale
Impfdosis aufzuzwingen. Alle Pandemie-Maßnahmen der Regierung seien
nichts anderes als Staatsterror. Wer in der Öffentlichkeit Kritik
übe, der werde von der Polizei verprügelt oder gleich in eine
geschlossene Anstalt gebracht. Ein Feuerwerk an Beschuldigungen.

Klingt witzig? Ist es aber nicht. In Corona-Zeiten sind solche
Verschwörer-Munkeleien längst kein gesellschaftliches Randphänomen
mehr. Vielmehr landet der Irrsinn immer häufiger in der Schlange vor
der Bäckerei oder über die raunende Tante in der WhatsApp-Gruppe.

Es gibt sie seit Jahren, die Menschen, deren Gedanken ernsthaft davon
geprägt sind, dass eine angeblich konspirative Elite die Bevölkerung
überwacht und unterdrückt. Doch die Pandemie, die für alle mit einem

beklemmenden Gefühl der Unsicherheit einhergeht, macht auch
diejenigen anfälliger dafür, die sonst eigentlich misstrauisch sind -
selbst Gartenfreunde, die von diesen schrecklichen Gefahren bis dahin
noch gar nichts gehört hatten.

ALTE THEORIEN IN NEUEM GEWAND

«Alle möglichen Verschwörungstheorien, die vorher schon
herumgeisterten, bekommen in der Corona-Pandemie einen neuen
Anstrich», sagt der Politikwissenschaftler Josef Holnburger an der
Uni Hamburg. Er beschäftigt sich intensiv mit dem Komplex.

Zum Beispiel blüht die seit Jahren unter dem Stichwort «Pizzagate»
kolportierte Geschichte wieder auf, nach der im Keller einer Pizzeria
in Washington Kinder als Sklaven gehalten werden. Die Clintons hätten
ihre Finger im Spiel, ebenso Hollywood-Stars und Bankiers. Im Grunde
geht es darum, dass ein Geheimbund im Hintergrund die Fäden in der
Hand hält, der sogenannte «Deep State». «Die bisher eigentlich
US-spezifische Popularität dieses Komplexes fasst auch in Deutschland
Fuß», sagt Kommunikationswissenschaftler Tim Schatto-Eckrodt. Er
promoviert an der Uni Münster über Verschwörungstheorien.

Um Ostern etwa wurde behauptet, während der Corona-Quarantäne würden

die Kinder in einer geheimen Rettungsaktion aus den unterirdischen
Höhlen befreit - auch in Deutschland. Dort hätten sie zum sexuellen
Missbrauch und zur Gewinnung einer Art Verjüngungsserum gedient, dem
«Adrenochrom». Klar zu erkennen ist dabei die Jahrhunderte alte
antisemitische Lüge vom Kinderblut trinkenden Juden.

Für Holnburger ist die Geschichte ein weiteres Beispiel, in dem der
vermeintliche Gegner grotesk überzeichnet wird. «Da reicht es nicht
mehr, dass eine gewisse Elite angeblich nur Geld verdient. Nein, sie
steckt auch Kinder in den Folterkeller.» Hinter dieser These steht
die sogenannte «QAnon»-Bewegung aus den USA, die in den dunklen Ecken
des Netzes mit anonymer Stimmungsmache ihr Gift verteilt.

PROMIS HELFEN BEI VERBREITUNG

Nicht zuletzt leisten Prominente wie Xavier Naidoo einen Beitrag. Dem
Sänger kommen in einem Selfie-Video als Reaktion auf die angebliche
Befreiung der Kinder die Tränen. ««Pizzagate» ist mir seit Anfang a
n
bewusst», sagt er jüngst in einem Interview. Seit Jahren taucht der
Musiker immer wieder im Zusammenhang mit Verschwörungstheorien auf.

Holnburger hält es für gefährlich, wenn Berühmtheiten solche Ideen

verbreiten. Abstruses bekomme dann ein größeres und auch jüngeres
Publikum. So sieht es auch Schatto-Eckrodt: «Prominente erzeugen
Reichweite, zudem haben sie unter ihren Fans eine gewisse Autorität.»

Dass komplexe Lügengeschichten florieren, ist in Krisenzeiten
typisch. «Verschwörungstheoretiker sind gut darin, eine einfache
Alternative zur unverständlichen Realität zu bieten, um vermeintlich
Klarheit zu schaffen», so Schatto-Eckrodt. In ihrem System gebe es
auf alle Fragen eine Antwort. Das Chaos bekommt Struktur und
Kontrolle. Dann werden Quarantänemaßnahmen eben statt mit einem
gefährlichen Virus zum Beispiel mit Staatsterror erklärt.

LOGIK UND WIDERSPRÜCHE SIND ZWEITRANGIG

Solch krudes Denken macht auch vor der deutschen Politik nicht Halt.
Als sich Angela Merkel wegen der Gefahr einer Sars-CoV-2-Ansteckung
in Isolation begab, hieß es, in Wahrheit sei die Kanzlerin verhaftet
worden - wegen ihrer Beteiligung am «Pizzagate». Donald Trump
hingegen, von der «QAnon»-Bewegung zum Helden erklärt, nutzte
angeblich die Quarantäne, um die Kinder aus den Fängen der Schänder
zu befreien. Das alles ist unbelegt, falsch, schlichtweg: gelogen.

Spätestens als Merkel wieder öffentliche Auftritte hat, muss das
jedem klar sein. Doch spielt das für die «QAnon»-Sympathisanten keine

Rolle. «Man kann einzelne Aussagen widerlegen», analysiert
Schatto-Eckrodt, «das ganze Konstrukt aber bleibt bestehen». Es gehe
bei Verschwörungstheorien nicht um einzelne Behauptungen, sondern
darum, dass etwas Geheimes passiere. Gesät wird damit Misstrauen in
Wissenschaft, Behörden, Politik und Presse.

In die Theorien sind auch Widersprüche eingepreist - etwa, dass das
Coronavirus nicht bedrohlicher sei als eine saisonale Grippe,
zugleich aber künstlich als Bio-Waffe entwickelt worden sei.

WARUM DAS GEFÄHRLICH IST

Doch was ist so schlimm daran, dass manche diesen Blödsinn glauben
oder ihn sich einreden lassen? In der Regel stehen hinter solchen
Theorien bösartige Ideologien. Und die spielen mit der Angst.

Anhänger fürchten sich davor, dass das eigene Leben massiv bedroht
ist. Im schlimmsten Fall greifen sie zur Waffe und töten Arglose, die
sie in ihrem Wahn als Schuldige sehen. «Die «QAnon»-Erzählung ist
eine der gefährlicheren Verschwörungstheorien», sagt Holnburger.
Wegen der bizarren Überzeichnung eines übermächtig-bösen Gegners
werde Gewalt als legitimes Mittel gerechtfertigt.

«Gut» gegen «Böse», «Wir» gegen «Die». Gerade Rechtsextre
me nutzen
Verschwörungstheorien, um vermeintlich Schuldige zu finden. Etwa bei
der rassistischen Vorstellung, die westliche Welt werde angeblich
überrannt von Menschen aus islamisch geprägten Ländern - und die
Gesellschaft dabei radikal ausgetauscht. Resultate einer solchen
Ideologie sind etwa der Mord an CDU-Politiker Walter Lübcke oder die
Attentate von Halle, Hanau und Christchurch.

Auch in der aktuellen Pandemie liegt Gewalt in der Luft. Jüngst
werden Mobilfunk-Sendemasten in Brand gesteckt, weil einige der Lüge
glauben, die 5G-Strahlung sei für den Corona-Ausbruch verantwortlich.
Das Verhängnisvolle also ist: Was die einen als albernes Hirngespinst
belächeln, ist für andere voller Ernst.

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