Freiheit in der Corona-Krise - warum Hegel wieder aktuell wird Von Bernward Loheide, dpa

Der Kampf gegen das Coronavirus wirft plötzlich wieder
Grundsatzfragen auf, mit denen sich schon die alten Philosophen
beschäftigt haben. Einer der größten von ihnen wurde vor 250 Jahren
in Stuttgart geboren. Von ihm kommt ein guter Ratschlag zur
Krisenbewältigung.

Stuttgart/Jena (dpa) - Wie lange noch schränkt der Staat wegen der
Corona-Pandemie die Freiheit seiner Bürger ein? Das fragen sich viele
Menschen. Freiheit bedeutet für sie: das tun zu können, was man will.

Einer der größten deutschen Philosophen sieht darin einen kapitalen
Fehler. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der vor 250 Jahren, im August
1770, in Stuttgart geboren wurde und 1831 in Berlin starb, hat einen
Gedanken entwickelt, der in der heutigen Krise hilfreich sein kann.

«Die Freiheit ist das Denken selbst», lehrte Hegel. «Wer das Denken
verwirft und von Freiheit spricht, weiß nicht, was er redet. (...)
Der Wille ist nur als denkender frei.» Das bedeutet: Auswählen zu
können zwischen vielen Möglichkeiten ist lediglich Willkür. Freiheit

wird daraus erst, wenn die Vernunft den Willen bestimmt. «Der Willkür
mangelt es am Denken, sie impliziert Unwissenheit», erläutert der
Jenaer Hegel-Forscher Prof. Klaus Vieweg.

Wenn der Staat also aus vernünftigen Gründen Corona-Partys verbietet,
dann schränkt er Hegel zufolge keine Freiheit ein, sondern nur
Willkür. Von einer Gängelung oder Repression der Bürger kann dann
keine Rede sein. «Die Teilnehmer an Corona-Partys machen eben nicht
ihr Recht auf freies Handeln geltend», betont Vieweg. «Sie handeln
bloß willkürlich und verstoßen fundamental gegen die Freiheit, gegen

die Rechte des Menschen.»

Die verheerenden Wirkungen von Pandemien kannte Hegel zur Genüge. Als
er starb, wütete in Berlin die Cholera. Trotzdem war er
überzeugt: «Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich

ist, das ist vernünftig.» Für keinen anderen Satz wurde er so massiv

angefeindet und verleumdet, dass es heute nur noch wenige
Intellektuelle gibt, die sich offen als Hegelianer zu erkennen geben.

Hat der Meisterdenker des Deutschen Idealismus mit diesem Satz jede
Seuche und jedes Unrecht dieser Welt als vernünftig gerechtfertigt?
Hat er alles Bestehende heiliggesprochen, auch den damaligen
preußischen Polizeistaat mit dessen antidemokratischer Zensur? Hat
sich ein solcher Restaurationsphilosoph, für den scheinbar der Staat
alles ist und der Einzelne nicht zählt, als Ratgeber in der
Corona-Krise disqualifiziert?

Dies ist ein weit verbreitetes Missverständnis, wie Vieweg in seiner
gut 800 Seiten dicken Hegel-Biografie nachgewiesen hat. Denn für den
Philosophen ist nicht alles «wirklich», was existiert. Nur das
Vernünftige ist die wahre Wirklichkeit, die die Welt im Innersten
zusammenhält.

Hegel, der an den Universitäten in Jena, Heidelberg und Berlin
lehrte, war zeit seines Lebens ein glühender Anhänger der
Französischen Revolution und der liberal-republikanischen Ideale von
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Aus diesem Grund war er im
Visier der preußischen Zensur, die ihn misstrauisch beäugte. Um die
Kontrolleure zu täuschen, streute er in seine Veröffentlichungen
Formulierungen ein, die auf den ersten Blick konformistisch aussehen,
tatsächlich aber beißende Kritik an den herrschenden, unvernünftigen

Verhältnissen bedeuten.

Die Idee des Staates gründet für Hegel im Prinzip der
selbstbewussten, individuellen Freiheit. Der Zweck des Staates
besteht darin, diese Freiheit aller seiner Bürger zu garantieren.
Genau dafür muss er aber aus Gründen der Vernunft die Willkür
begrenzen.