) Heftige Kritik an Orbans Notstand: «Zerstörung des Rechtsstaats»

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban kann künftig per Dekret
regieren. Das Parlament gab ihm wegen der Corona-Krise die nötigen
Vollmachten. Aus Brüssel kommt deutlicher Gegenwind.

Brüssel/Budapest (dpa) - Das Notstandsgesetz der ungarischen
Regierung erfährt deutlichen Widerstand. EU-Kommissionschefin Ursula
von der Leyen stellte sich am Dienstag gegen derlei Schritte - ohne
Budapest beim Namen zu nennen. Die Bundesregierung mahnte, auch in
Krisenzeiten die Verhältnismäßigkeit zu wahren. Auch das ungarische
Helsinki-Komitee, das sich für die Respektierung der Menschenrechte
in dem Land einsetzt, zeigte sich besorgt.

Im Kampf gegen die Corona-Pandemie hatten zuletzt mehrere EU-Länder
Notstandsgesetze eingeführt. Ungarns rechtsnationaler
Ministerpräsident Viktor Orban ging dabei jedoch besonders weit. Er
hatte sich am Montag vom Parlament mit umfassenden Sondervollmachten
ausstatten lassen. Staatspräsident Janos Ader unterzeichnete das
Gesetz noch am selben Tag, am Dienstag trat es in Kraft.

Es ermöglicht Orban, ohne zeitliche Befristung auf dem Verordnungsweg
zu regieren. Zwar kann auch das Parlament ein Ende des Notstands
beschließen. Zugleich besagt das Gesetz jedoch, dass die Vollmachten
ohne zeitliche Frist bestehen bleiben, falls das Parlament verhindert
ist. In diesem Punkt bleibt das Gesetz jedoch vage. So enthält es
keine Kriterien dafür, wann das Parlament als verhindert gilt. Hinzu
kommt, dass Orbans Fidesz-Partei die absolute Mehrheit stellt und das
Ende des Notstands wohl kaum ohne die Zustimmung des Regierungschefs
beschließen würde.

Weitere Bestimmungen besagen, dass während des Notstands keine Wahlen
und Referenden stattfinden dürfen. Außerdem wurden Strafen für
Verstöße gegen Quarantänebestimmungen sowie für die Verbreitung von

Falschnachrichten deutlich verschärft. Journalisten befürchten, dass
ihnen wegen kritischer Berichterstattung Haftstrafen drohen könnten.

Schon jetzt läuft wegen der mutmaßlichen Einschränkung von Bürger-

und Grundrechten ein Grundwerteverfahren gegen Ungarn, das
theoretisch zum Entzug der Stimmrechte in der Union führen kann. Es
kommt jedoch kaum voran. Kritiker werfen Orban seit Jahren den Abbau
des Rechtsstaats sowie Einschränkungen der Pressefreiheit vor.

Die Menschrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Bärbel Kofler,
teilte mit, es sei auch «in dieser außerordentlich schwierigen Lage,
in der sich alle europäischen Mitgliedsstaaten befinden», besonders
wichtig, «die Verhältnismäßigkeit zu wahren». Gerade in einer
Ausnahmesituation sei das Führen demokratischer Diskussionen in
Parlament, Medien und Zivilgesellschaft von enormer Bedeutung für das
Vertrauen der Bevölkerung in den Rechtsstaat. Medienfreiheit und das
Recht auf freie Meinungsäußerung gingen damit einher. «Deshalb ist es

sehr wichtig, dass wir alle unsere Maßnahmen sorgfältig abwägen und
immer wieder überprüfen können.»

Die EU-Kommission, die in der Staatengemeinschaft für die Überwachung
von EU-Recht zuständig ist, kündigte am Dienstag keine unverzüglichen

Schritte gegen das Gesetz an, sondern will zunächst dessen Anwendung
überwachen. «Alle Notstandsmaßnahmen müssen auf das, was notwendig

ist, begrenzt und streng verhältnismäßig sein. Sie dürfen nicht
unbegrenzt dauern», sagte von der Leyen. Freie Berichterstattung sei
wichtiger als je zuvor. Notstandsmaßnahmen dürften nicht auf Kosten
der Grundwerte gehen. Ein Kommissionssprecher ergänzte, das Kollegium
der EU-Kommissare werde am Mittwoch über die Notstandsgesetze der
EU-Staaten beraten.

Die Grünen-Europapolitikerin Ska Keller sagte, Orban missbrauche die
Corona-Krise für politische Zwecke. Besondere Maßnahmen seien in
Ausnahmesituationen zwar grundsätzlich möglich. Sie müssten jedoch
angemessen und befristet sein. «In Ungarn ist es augenscheinlich,
dass es sehr wenig damit zu tun hat, jetzt begrenzt in einer
Ausnahmesituation zu handeln. Ministerpräsident Viktor Orban nutzt
den Anlass, um seine Macht auszuweiten», sagte die Fraktionschefin im
Europaparlament der Deutschen Presse-Agentur in Brüssel.

Der Präsident des Europaparlaments, David Sassoli, sagte: «Niemand
darf diese Pandemie dazu benutzen, unsere Freiheiten zu untergraben.»
Alle EU-Staaten hätten die Pflicht, die Grundwerte zu schützen. «Fü
r
uns müssen die Parlamente offenbleiben und die Presse muss frei
bleiben.»

Das ungarische Helsinki-Komitee will seine Aktivitäten angesichts des
Notstandsgesetzes verstärken. Dies geschehe, um «der Zerstörung des
Rechtsstaats etwas entgegenzusetzen». «Das ungarische Parlament als
das Gesetzgebungsorgan, das die Bürger repräsentiert, ist von nun an
praktisch stillgelegt», hieß es. Während der Abwesenheit eines
regulär funktionierenden Parlaments werde die zivile Kontrolle der
Regierung und ihrer Institutionen durch Presse sowie Menschenrechts-
und andere zivile Organisationen noch wichtiger.