Anti-Virus-«Winterschlaf» bringt Sánchez in Spanien an den Pranger Von Emilio Rappold, dpa

In Spanien starben zuletzt sogar mehr Corona-Kranke als im aktuellen
Brennpunkt Italien. Über 800 pro Tag. Madrid geht deshalb im Kampf
gegen das Virus jetzt aufs Ganze und legt das Land lahm. Viele sind
aber dagegen. Regierungschef Sánchez gerät enorm unter Druck.

Madrid (dpa) - Spanien hat seit Tagen knapp alle zwei Minuten einen
Corona-Toten zu beklagen. Am Dienstag wurde mit 849 neuen Fällen
binnen 24 Stunden ein trauriger Rekord gemeldet. Nirgendwo auf der
Welt gibt es derzeit so viele neue Todesopfer. Den Intensivstationen
droht der Kollaps. Bundesaußenminister Heiko Maas sprach auf Twitter
von «unfassbar bitteren Nachrichten» und stellte Hilfe in Aussicht.

Um die Eindämmung der Krise zu beschleunigen, beschloss die linke
Regierung eine ebenso drastische wie umstrittene Verschärfung des
Ausgangsverbots, die am Dienstag in Kraft trat. Sehr zum Ärger vieler
Politiker und fast aller Unternehmer. Der bisher trotz einiger Fehler
weitgehend geschonte Ministerpräsident Pedro Sánchez wird deshalb
plötzlich gnadenlos attackiert. Das Blatt «El Mundo» schrieb, der

«Winterschlaf», wie Madrid die Aktion nennt, werde für die
viertgrößte Volkswirtschaft der Eurozone «tödlich» sein.

DER «WINTERSCHLAF» LEGT DIE WIRTSCHAFT SPANIENS LAHM

Bisher durften in Spanien alle Bürger, die nicht im Homeoffice
arbeiten konnten, trotz der seit dem 15. März und noch bis zum 11.
April geltenden Ausgangssperre zum Arbeitsplatz fahren. Das ist nun
vor allem in weiten Teilen der Industrie und im Bausektor für die
nächsten knapp zwei Wochen vorbei. Die betroffenen Arbeitnehmer
sollen ihr Gehalt zwar weiterhin beziehen, die nicht geleisteten
Stunden aber später nachholen. Nur die Menschen, die in «wesentlichen
Sektoren» tätig sind, dürfen weiterhin das Haus verlassen, um ihren
Jobs nachzugehen. Ab sofort sollen auch Soldaten zunächst in 87
Gemeinden über die Einhaltung des Ausgangsverbots wachen.
Regelbrecher kamen bereits hinter Gitter.

WARNUNGEN VOR «SOZIALER KRISE» UND JOB-VERNICHTUNG

Experten warnen die Regierung, durch den «Winterschlaf» könnten bis
zu vier Millionen Jobs vernichtet werden. «So geht das nicht! Die
Regierung hat uns nicht einmal um Rat gefragt», klagte Antonio
Garamendi, der Präsident des Unternehmerverbandes CEOE, im Interview
des Radiosenders RNE. Durch das Lahmlegen der Wirtschaft drohe «nicht
nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine soziale Krise». «Man
treibt uns in den Bankrott», schimpfte neben unzähligen Arbeitgebern
und Arbeitnehmern auch der Präsident des spanischen
Selbstständigenverbandes ATA, Lorenzo Amor.

DIE OPPOSITION ENTZIEHT SANCHEZ DIE UNTERSTÜTZUNG

Der konservative Oppositionsführer Pablo Casado hatte das
Krisenmanagement von Sánchez bisher nur am Rande kritisiert, dem
Regierungschef aber stets seine volle Unterstützung bei allen
Maßnahmen zugesichert. Die entzog der Chef der Volkspartei (PP) dem
Ministerpräsidenten aber nun. «Loyalität ist kein Blankoscheck»,
erklärte Casado. «Die Kosten (der Krisenbewältigung) dürfen nicht d
en
Unternehmen aufgebürdet werden, sie müssen vom Staat getragen
werden», forderte der 39-Jährige. Wenn es keine Korrekturen gebe,
würden unzählige kleine und mittlere Firmen nie wieder aus dem
«Winterschlaf» erwachen.

KRITIK KOMMT AUCH VON ANDEREN POLITIKERN UND VON MEDIEN

Noch weiter ging Santiago Abascal, der Chef der rechtspopulistischen
Partei Vox, der drittstärksten Kraft im Madrider Parlament. Man werde
Sánchez in Zukunft «strafrechtlich verfolgen lassen», sagte er.
Protest kam außerdem auch von Regionalpräsidenten verschiedener
politischer Couleur. Die konservative Zeitung «ABC» schrieb: «Die
Zukunft ist nicht mehr nur ungewiss, sie ist inzwischen enorm
besorgniserregend.»

DER «WINTERSCHLAF» SORGT FÜR VERLUSTE, ABER AUCH FÜR CHANCEN

Allein die Baubranche, die nach eigenen Angaben 1,27 Millionen
Menschen beschäftigt und einen Anteil von zehn Prozent am spanischen
Bruttoinlandsprodukt hat, dürfte in den nächsten zwei Wochen vier
Milliarden Euro einbüßen. Die Zeitung «La Razón» schätzte den
Gesamtverlust auf 60 Milliarden.

Durch das Stilllegen weiter Wirtschaftssektoren bleiben aber
zusätzlich viele Millionen Menschen zu Hause - die Ausbreitung des
Virus wird drastisch reduziert. Wenige Zahlen machen das deutlich.
Der Bahn-Fernverkehr sei zum Wochenanfang im Vergleich zum selben
Zeitraum der Vorwoche - als der sogenannte Alarmzustand schon lange
in Kraft war - um 60 Prozent zurückgegangen, berichtete
Verkehrsstaatssekretärin María José Rallo. In Madrid habe es am
Dienstag 36 Prozent weniger Schwerlastverkehr als vor sieben Tagen
gegeben. Der Stromverbrauch lag 25 Prozent unter Normalniveau.

DER DRUCK AUF SÁNCHEZ WÄCHST, NEUE FEHLER WÄREN FATAL

Nach einer am Montag veröffentlichten Umfrage des Instituts NC Report
meinen mehr als 80 Prozent der Spanier, Sánchez habe zu spät auf die
Krise reagiert. Viele verstehen nicht, wieso die Regierung am 8. März
in Madrid eine Riesenkundgebung anlässlich des Weltfrauentages
zuließ, als die Weltgesundheitsorganisation bereits vor Massenevents
gewarnt hatte. Zehntausende nahmen damals teil. Darunter drei
Angehörige des Kabinetts und auch Sánchez' Ehefrau Begoña - die alle

anschließend positiv getestet wurden.

Ist vielleicht auch deshalb Madrid mit mehr als 3600 Toten (bei rund
8200 Todesfällen in ganz Spanien) das Epizentrum der Krise?, fragt
man sich in der Hauptstadt. Für Unmut sorgte unter anderem auch, dass
die Regierung Zehntausende mangelhafte Testkits kaufte. Mehr Fehler
darf sich Madrid nicht leisten, warnt «El Mundo»: Die Verschärfung

des Ausgangsverbots sei Sánchez' «letzte Kugel».