Umstrittener Anti-Virus-«Winterschlaf» in Spanien gestartet Von Emilio Rappold, dpa

In Spanien starben zuletzt sogar mehr Corona-Kranke als im aktuellen
Brennpunkt Italien. Über 800 pro Tag. Madrid geht deshalb im Kampf
gegen das Virus aufs Ganze und legt das Land lahm. Viele sind aber
dagegen. Regierungschef Sánchez gerät enorm unter Druck.

Madrid (dpa) - Spanien hatte in den vergangenen Tagen knapp alle zwei
Minuten einen Corona-Toten zu beklagen. Ähnlich dramatische Zahlen
gab es zuletzt nur in Italien. Den Intensivstationen droht der
Kollaps. Um die Eindämmung der Krise zu beschleunigen, beschloss die
linke Regierung eine drastische Verschärfung des Ausgangsverbots, die
am Dienstag voll in Kraft trat. Zum Ärger vieler Unternehmer und
Politiker, die deshalb den bisher trotz einiger Fehler geschonten
Ministerpräsidenten Pedro Sánchez nun gnadenlos attackieren. Adiós

politische Waffenruhe. Das Blatt «El Mundo» schrieb, der
«Winterschlaf», wie Madrid die Aktion nennt, werde für die
viertgrößte EU-Volkswirtschaft «tödlich» sein.

DER «WINTERSCHLAF» LEGT DIE WIRTSCHAFT SPANIENS LAHM

Bisher durften in Spanien alle Bürger, die nicht im Homeoffice
arbeiten konnten, trotz der seit dem 15. März und noch bis zum 11.
April geltenden Ausgangssperre zum Arbeitsplatz fahren. Das ist nun
vor allem in weiten Teilen der Industrie und im Bausektor für die
nächsten knapp zwei Wochen vorbei. Die betroffenen Arbeitnehmer
sollen ihr Gehalt zwar weiterhin beziehen, die nicht geleisteten
Stunden aber später nachholen. Nur die Menschen, die in «wesentlichen
Sektoren» tätig sind, dürfen weiterhin das Haus verlassen, um ihren
Jobs nachzugehen.

WARNUNGEN VOR «SOZIALER KRISE» UND JOB-VERNICHTUNG

Experten warnen die Regierung, durch den «Winterschlaf» könnten bis
zu vier Millionen Jobs vernichtet werden. «So geht das nicht! Die
Regierung hat uns nicht einmal um Rat gefragt», klagte Antonio
Garamendi, der Präsident des Unternehmerverbandes CEOE, am Montag im
Interview des Radiosenders «RNE». Durch das Lahmlegen der Wirtschaft
drohe «nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine soziale
Krise». «Man treibt uns in den Bankrott», schimpfte neben unzählige
n
Arbeitgebern und Arbeitnehmern auch der Präsident des spanischen
Selbstständigenverbandes ATA, Lorenzo Amor.

DIE OPPOSITION ENTZIEHT SANCHEZ DIE UNTERSTÜTZUNG

Der konservative Oppositionsführer Pablo Casado hatte das
Krisenmanagement von Sánchez bisher nur am Rande kritisiert, dem
Regierungschef aber stets seine volle Unterstützung bei allen
Maßnahmen zugesichert. Die entzog der Chef der Volkspartei (PP) dem
Ministerpräsidenten aber nun. «Loyalität ist kein Blankoscheck»,
erklärte Casado. «Die Kosten (der Krisenbewältigung) dürfen nicht d
en
Unternehmen aufgebürdet werden, sie müssen vom Staat getragen
werden», forderte der 39-Jährige. Wenn es keine Korrekturen gebe,
würden unzählige kleine und mittlere Firmen nie wieder aus dem
«Winterschlaf» erwachen.

KRITIK KOMMT AUCH VON ANDEREN POLITIKERN UND VON MEDIEN

Weiter als Casado ging Santiago Abascal, der Chef der
rechtspopulistischen Partei Vox, der drittstärksten Kraft im Madrider
Parlament. Man werde Sánchez in Zukunft «strafrechtlich verfolgen
lassen», sagte er. Protest kam außerdem auch von Regionalpräsidenten

verschiedener politischer Couleur. Die konservative Zeitung «ABC»
schrieb derweil: «Die Zukunft ist nicht mehr nur ungewiss, sie ist
inzwischen enorm besorgniserregend.»

DER «WINTERSCHLAF» SORGT FÜR RIESENEINBUßEN, ABER AUCH FÜR CHANCE
N

Allein die Baubranche, die nach eigenen Angaben 1,27 Millionen
Menschen beschäftigt und einen Anteil von zehn Prozent am spanischen
Bruttoinlandsprodukt hat, dürfte in den nächsten zwei Wochen vier
Milliarden Euro einbüßen. Die Zeitung «La Razón» schätzte den
Gesamtverlust auf 60 Milliarden.

Durch das Stilllegen weiter Wirtschaftssektoren bleiben aber
zusätzlich viele Millionen Menschen zu Hause - die Chancen des Virus
auf Ausbreitung werden drastisch reduziert. Wenige Zahlen machen das
deutlich. Schon am Montag ging der Nahverkehr in Madrid im Vergleich
zum selben Tag der Vorwoche um 40 Prozent zurück. Auf den kurzfristig
mitgeteilten Aufschub des «Winterschlafes» um 24 Stunden konnten
viele Unternehmen wohl nicht mehr reagieren. Der Energiekonsum lag
derweil 25 Prozent unter Normalniveau.

DER DRUCK AUF SÁNCHEZ WÄCHST, NEUE FEHLER WÄREN FATAL

Bisher hatte der Ministerpräsident in den Augen vieler Spanier sicher
nicht alles richtig gemacht. Nach einer am Montag veröffentlichten
Umfrage des Instituts NC Report meinten mehr als 80 Prozent, Sánchez
habe zu spät auf die Krise reagiert.

Viele Spanier verstehen etwa nicht, wieso die Regierung am 8. März in
Madrid die Riesenkundgebung anlässlich des Weltfrauentages zuließ,
als die Weltgesundheitsorganisation bereits vor Massenevents gewarnt
hatte. Zehntausende nahmen damals teil. Darunter drei Angehörige des
Regierungs-Kabinetts und Sánchez' Ehefrau Begoña - die alle
anschließend positiv getestet wurden.

Ist vielleicht auch deshalb Madrid mit knapp 3400 Toten (fast der
Hälfte aller Todesfälle Spaniens) das Epizentrum der Krise?, fragt
man sich in der Hauptstadt. Für Unmut sorgte unter anderem auch, dass
die Regierung Zehntausende mangelhafte Testkits kaufte. Mehr Fehler
darf sich Madrid nicht leisten, warnte «El Mundo»: Die Verschärfung

des Ausgangsverbots sei Sánchez' «letzte Kugel».