Corona auf Flüchtlingsinseln «nur noch eine Frage der Zeit» Von Alexia Angelopoulou, Takis Tsafos und Mirjam Schmitt, dpa

Zahlreiche Hilfsorganisationen fordern, die Flüchtlingslager auf den
griechischen Inseln angesichts der Corona-Ausweitung sofort zu
räumen. Doch im Wahnsinn der Pandemie gehen die Hilferufe unter,
während die Situation vor Ort immer absurder und unmenschlicher wird.

Athen/Lesbos/Istanbul (dpa) - Inmitten von Müll, Schlamm und Gestank
zu leben und das dreckige Lager wegen Corona-Ausgangsbeschränkungen
nun nicht einmal mehr verlassen zu dürfen - das ist mittlerweile der
Alltag von Flüchtlingen und Migranten auf den griechischen Inseln.
Gab es für die Menschen schon zuvor kaum noch Perspektiven, kommt
jetzt die Angst vor dem Virus hinzu. Diese Sorge teilen die
Hilfsorganisationen: Sollte Corona in einem der Lager wüten, könnten
die Todesfälle weitaus höher liegen als in einer normalen Umgebung.

Am Dienstag wurde nun der erste Fall gemeldet: Betroffen ist eine
Frau, bei der das Virus nach der Geburt ihres Kindes in einem
Krankenhaus in Athen festgestellt wurde, wie das griechische
Migrationsministerium mitteilte. Die Menschen, die mit der aus Afrika
stammenden Frau in Kontakt gekommen sind, seien isoliert worden.
Ähnliche Maßnahmen seien im Camp von Ritsona im Norden Athens
getroffen worden, wo die Frau lebte. Im Lager von Ritsona, wo nach
Schätzungen der Athener Medien rund 3000 Menschen leben, ist die Lage
bei weitem nicht so schlimm wie in den Camps auf den Inseln im Osten
der Ägäis.

Es gibt immer wieder Forderungen nach der Evakuierung der
Flüchtlingslager, aber keine Lösungen. Athen weiß nicht, wohin mit
den Menschen, und die EU-Staaten können sich nicht darauf
verständigen, sie untereinander zu verteilen. Immerhin sollen die
ersten Kinder und Jugendlichen schon bald auf Deutschland und einige
andere Länder verteilt werden - doch auch hier geht die EU-Kommission
wegen der Corona-Krise von Verzögerungen aus.

«Die Menschen leben jetzt schon unter extrem risikoreichen
Bedingungen, auf engstem Raum eingepfercht, ohne ausreichende
Hygiene», beschreibt Boris Cheshirkov vom UN-Flüchtlingshilfswerk
(UNHCR) die Situation auf Lesbos, wo derzeit rund 20 000 Flüchtlinge
und Migranten gezählt werden, bei einer Aufnahmekapazität von gerade
mal 3000 Plätzen. Die Organisation fordert seit Monaten, die Menschen
aufs Festland zu bringen. «Es ist an den Behörden, zu handeln und die
Kapazitäten auf dem Festland auszuweiten», sagt Cheshirkov. Athen
aber ist derzeit vorrangig mit Corona beschäftigt.

Solange eine Evakuierung nicht geschieht, versucht das UNHCR, den
Staat bei der Ausrüstung und Vorbereitung auf Corona zu unterstützen.
«Wir verteilen mehr Geld an die Menschen, damit sie Hygieneartikel
wie Desinfektionsmittel kaufen können, und unterstützen den Staat
dabei, die Hygienemöglichkeiten vor Ort zu verbessern - mehr Seife,
mehr Wasserhähne und Toiletten.» Bisher stünden die Menschen
weiterhin zu Dutzenden eng gedrängt in Schlangen, um an eine der
wenigen Waschmöglichkeiten zu gelangen.

Die Behörden versuchen derzeit, medizinische Container zu errichten,
in denen infizierte Menschen isoliert und behandelt werden könnten.
«Vor dem Lager Moria haben sie einen Container aufgestellt», sagt
Dimitris Patestos, Chef der Lesbos-Niederlassung der Organisation
Ärzte der Welt. «Im Container arbeiten ein Arzt und eine
Krankenschwester. Soll das eine Maßnahme zur Vorbeugung und
Bekämpfung des Coronavirus sein?», fragt der Kardiologe. Das Virus
könne jederzeit ausbrechen, davon ist er überzeugt. Organisationen
wie das UNHCR haben die Zahl ihrer Mitarbeiter wegen der Pandemie
bereits reduziert. In einem Lager wie Moria, wo viele nach dem Winter
ohnehin schon husten, schlecht ernährt sind und an verschiedenen
Krankheiten leiden, könnten die Auswirkungen extrem sein.

Im Rahmen der Maßnahmen, die der griechische Staat vor zwei Wochen
gegen das Coronavirus getroffen hat, dürfen neben den Bürgern nun
auch die Lagerbewohner nur noch in Ausnahmefällen ihr «Zuhause»
verlassen - und dann nur 100 Menschen pro Stunde. In Gruppen
loszuziehen ist verboten, einzeln müssen sie sich bei der Polizei
melden, um Einkäufe oder Arztbesuche zu unternehmen. Von der Polizei
werden sie etwa auf Lesbos zur Inselhauptstadt Mytilini gebracht und
auch wieder zurück zum Lager gefahren.

Die strengen Corona-Maßnahmen, die Griechenland im Vergleich zu
anderen Ländern früh getroffen hat - Schulen und Gastronomie zu
schließen und Ausgang nur noch für Besorgungen und den Weg zur Arbeit
zu erlauben, sind der einzige Hoffnungsfunke. Das Land hat rund 11
Millionen Einwohner - in etwa so viele wie Baden-Württemberg - und
zählt bisher nur 1156 Infizierte und 40 Tote, während das deutsche
Bundesland (Stand Sonntag 16.00 Uhr) aktuell auf rund 11 500 Fälle
und 128 Todesfälle kommt.

Auf die griechischen Inseln dürfen generell nur noch Einwohner
reisen, die per Steuerbescheid nachweisen können, dass sie dort leben
und arbeiten. Lesbos hatte bisher zwei Corona-Fälle, die weit vom
Lager Moria entfernt in anderen Orten der Insel lagen. Gelingt es
Athen, die strengen Maßnahmen weiterzuführen und die Corona-Kurve
verhältnismäßig flach zu halten, besteht eine kleine Chance, dass das

Virus nicht in die Lager gelangt.

Für den anderen Krisenhotspot, die griechisch-türkische Grenze, gibt
es derweil vorläufig Entwarnung: Die provisorischen Zeltlager am
türkischen Grenzübergang Pazarkule wurden am vergangenen Freitag
aufgelöst. Laut türkischer Medienberichte wurden die Menschen wegen
der Coronavirus-Krise unter Quarantäne genommen. Wohin sie gebracht
wurden, ist jedoch unklar. Migranten berichteten der Zeitung
«Birgün», dass die Polizei sie gezwungen habe, die Zelte zu verlassen

und diese dann mitsamt ihren Habseligkeiten abgebrannt habe. Bei der
staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu dagegen hieß es, die Migranten
hätten «ihre Bitte, das Areal zu verlassen», den Behörden
übermittelt, sie seien zunächst in eine zweiwöchige Quarantäne
geschickt worden und würden dann in «angemessene» Orte gebracht.

Wie viele Menschen sich vor der Räumung am Grenzübergang Pazarkule
aufgehalten hatten, war unklar. Nach Schätzungen griechischer
Sicherheitskräfte waren es wenige Hundert, der türkische
Innenminister Süleyman Soylu sagte am Freitag, 5800 Migranten seien
von der Grenze weggebracht worden. Soylu warnte auch, dass die
Migrationskrise noch nicht vorbei sei. Es handele sich lediglich um
eine Vorsichtsmaßnahme. Wenn das Infektionsrisiko vorüber sei, werde
man Migranten, die wieder zum Grenzübergang wollten, nicht aufhalten.