Tiefe Zäsur - Die Langzeitfolgen von Corona Von Christoph Driessen, dpa

Große Epidemien haben in der Geschichte immer bleibende Spuren
hinterlassen. Die Corona-Krise dürfte da keine Ausnahme sein.
Wirtschaft, Politik und Gesellschaft - Wissenschaftler erwarten
Veränderungen in vielen Bereichen.

Berlin (dpa) - In den Katakomben des Kölner Doms kann man sich bis
heute anschauen, wie Epidemien eine Gesellschaft verändern können.
Bis zu 16 Meter tief in die Erde ragen dort die Pfeilerfundamente der
Kathedrale. An einer Stelle stehen sich zwei solcher Pfeiler
gegenüber. Einer ist achteckig und sehr sauber gearbeitet, der andere
viel weniger sorgfältig. Der erste stammt von etwa 1330, der zweite
von 1449. Dazwischen lag die Pest. Sie raffte so viele Menschen
hinweg, dass Löhne und Preise explodierten. Die Dombaumeister mussten
sparen und stiegen auf eine einfachere Bauweise um.

Welche bleibenden Folgen wird Corona hinterlassen? Dass die Welt nach
der Pandemie nicht mehr so aussehen wird wie vorher, darüber besteht
weitgehend Einigkeit. Der «Economist» zieht einen sehr britischen
Vergleich: «Covid-19 markiert eine ebenso tiefe Zäsur in der
Geschichte wie Hitlers Blitzkrieg.»

Am stärksten dürfte zunächst einmal die WIRTSCHAFT betroffen sein.
Die durch die Corona-Krise ausgelöste Rezession könnte nach
Einschätzung des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der
EU-Kommission in diesem Jahr mindestens so schlimm werden wie in der
Finanzkrise von 2008. Der Präsident des Münchner Ifo-Instituts,
Clemens Fuest, glaubt sogar: «Die Kosten werden voraussichtlich alles
übersteigen, was aus Wirtschaftskrisen oder Naturkatastrophen der
letzten Jahrzehnte in Deutschland bekannt ist.» Wie schlimm es wird,
dürfte davon abhängen, ob die Lahmlegung des öffentlichen Lebens nur

einige Wochen dauert oder sich über Monate erstreckt.

Eine in diesen Tagen viel diskutierte Frage ist, ob die Krise die
GLOBALISIERUNG abbremsen oder gar ein Stück weit zurückdrängen wird
.
So entwirft der Zukunftsforscher Matthias Horx in einem millionenfach
angeklickten Text das Bild einer Post-Corona-Welt, in der sich
das frühere Wirtschaftssystem «mit riesigen verzweigten
Wertschöpfungsketten, bei denen Millionen Einzelteile über den
Planeten gekarrt werden», überlebt hat.

«In der neuen Welt spielt Vermögen plötzlich nicht mehr die
entscheidende Rolle», schreibt er. «Wichtiger sind gute Nachbarn und

ein blühender Gemüsegarten.» Im Gespräch mit der Deutschen
Presse-Agentur konkretisiert Horx, er glaube zum Beispiel nicht, dass
nach der Krise wieder so viel geflogen werde wie vorher.

Wissenschaftler reagieren skeptisch. So glaubt der Münchner Soziologe
Armin Nassehi nicht, dass sich die Globalisierung abschwächen wird:
«Wir leben in einer stark vernetzten Weltgesellschaft, deren
Integrationsgrad auf ökonomischem, auf politischem und auf
kulturellem Gebiet so hoch ist, dass man die Globalisierung nicht
herunterfahren kann.»

Der Sozial- und Kulturanthropologe Hansjörg Dilger von der Freien
Universität Berlin warnt: «Ich wäre sehr vorsichtig, diese möglic
hen
Effekte schönzuzeichnen.» Dilger befürchtet nicht nur einen große
n
Schaden für die Wirtschaft: Die Corona-Zeit sei gekennzeichnet durch
Abschottung auf allen Ebenen - vom individuellen Bereich bis zu den
INTERNATIONALEN BEZIEHUNGEN.

Dabei verweist er auf die Grenzschließungen und die vorrangige
Konzentration auf die jeweilige nationale Wirtschaft und das eigene
Gesundheitssystem. «Das kann nachhaltigen Schaden anrichten», warnt
er. «Nationalistische und populistische Bewegungen können Auftrieb
bekommen, wenn das Gefühl entsteht, jede Gesellschaft denkt nur an
sich selbst. Deshalb ist es ganz wichtig, Solidarmodelle auf
europäischer und globaler Ebene zu aktivieren. Wenn wir jetzt keine
Schulterschlüsse hinbekommen, dann wird das einen dauerhaften
negativen Effekt auf unser internationales Zusammenleben haben.» 

Die Politikwissenschaftlerin Andrea Römmele wiederum kann sich
vorstellen, dass der RECHTSPOPULISMUS durch die Corona-Erfahrung
geschwächt wird: «Es zeigt sich jetzt, dass unsere Institutionen
funktionieren, und das wird den Populisten ein Stück weit das Wasser
abgraben.»

Kontrovers diskutiert wird auch die Frage, wie sich Corona auf den
KLIMASCHUTZ auswirken wird. Einer Krise mit zigtausenden Toten und
schweren wirtschaftlichen Verwerfungen könne man generell nichts
Positives abgewinnen, stellt der Oxfam-Klima-Experte Jan Kowalzig
klar. Dass in Europa und anderswo vorübergehend die Lichter
ausgingen, habe den CO2-Ausstoß kurzfristig zwar gesenkt. «Aber das
ist bestenfalls eine kurze Atempause für das Weltklima. Aus der
Finanzkrise von 2008/2009 wissen wir, dass nach einer solchen Krise
die Wirtschaft umso stärker wieder anspringen dürfte. Damals war der
Rückgang der Emissionen in kurzer Zeit wieder ausgeglichen.»

Zu befürchten sei, dass Klimaschutz-Bremser nun ihre Chance
witterten. Ihr Argument: Die Wirtschaft ist sowieso schon schwer
belastet, deshalb muss der Klimaschutz jetzt erst mal zurücktreten.
«Solche Attacken könnten uns weit zurückwerfen», warnt Kowalzig.
Eine
Chance böten die beschlossenen Konjunkturprogramme, allerdings nur
dann, wenn die Milliarden für einen klimafreundliche Umbau der
Wirtschaft genutzt würden.

Ein weiterer Bereich, der durch die Krise dauerhaft verändert werden
könnte, ist der ARBEITSALLTAG. «Ich bin mir sicher, dass die
DIGITALISIERUNG durch die veränderten Verhaltensweisen während der
Corona-Krise einen Schub erfahren wird», sagt der
Kommunikationswissenschaftler Peter Vorderer. Millionen Menschen
haben jetzt erstmals Home Office gemacht und über Videokonferenzen
mit ihren Kolleginnen und Kollegen kommuniziert. Vorderer ist sich
«sehr sicher, dass sich das Zusammenarbeiten nach der Krise anders
darstellen wird».

Bei ihm an der Universität Mannheim kommunizierten Lehrende und
Studierende derzeit zum Beispiel nur noch über digitale Medien. «Das
ist nicht optimal, manchmal mühsam, aber es geht. Nun gehe ich nicht

davon aus, dass dies auch nach dem Abflauen der Pandemie ganz genauso
weitergehen wird. Aber zu dem Zustand davor werden wir
wohl auch nicht wieder vollständig zurückkehren.» Es werde aber a
uch
eine gegenläufige Entwicklung geben: «Wenn die Menschen nicht mehr
zuhause bleiben müssen, werden sie sich auch freuen, wieder
zusammenzukommen, auch bei der Arbeit.»

Werden sich vielleicht sogar ganz normale VERHALTENSWEISEN  ändern?
Die Sozialpsychologin Andrea Abele-Brehm kann sich das durchaus
vorstellen, etwa beim Händeschütteln: «Das ist ja kein Verhalten, das

unsere inneren Emotionen ausdrückt, es ist eine Kulturtechnik. Und da
bin ich mir relativ sicher, dass sich da einiges verändern wird. Da
hätte ich die Hypothese, dass das auch nach der Krise nicht mehr im
vollen Umfang zurückkommt.» Vieles hänge davon ab, wie lang die Krise

letztlich dauern werde. «Das Umarmen und Küsschen-Geben bei guten
Freunden, das wird nach der Krise aber irgendwann zurückkehren. Wäre

ja auch schlimm, wenn nicht.»