Regierung ringt in Corona-Krise um Eindämmung der Lockerungsdebatte
Millionen im Homeoffice, Rausgehen nur zu zweit oder mit
Mitbewohnern, Freiluft-Sport nur allein. Es war schwierig, das
durchzusetzen. Doch nach einer Woche Stillstand werden die Rufe nach
Lockerungen immer lauter. Die Regierung ist besorgt.
Berlin (dpa) - Zehntausende Corona-Fälle in Deutschland, und der
Anstieg geht weiter: Die Bundesregierung versucht deshalb energisch,
die Debatte über eine Lockerung der Abwehrmaßnahmen einzudämmen. Zu
groß ist die Angst, die Menschen könnten die gerade erst
durchgesetzten Kontaktbeschränkungen zu ignorieren beginnen. Nachdem
Kanzlerin Angela Merkel am Wochenende bereits um Geduld gebeten
hatte, weist nun eine ganze Reihe ihrer Minister Forderungen zurück,
angesichts der sozialen und wirtschaftlichen Belastungen möglichst
bald über einen Ausstieg aus den schärfsten Maßnahmen zu reden.
Unions- und SPD-Minister sind sich nach der ersten Woche Shutdown
durchaus einig - doch die Diskussion endet nicht.
Finanzminister Olaf Scholz (SPD) warf den Befeuerern der Debatte
Zynismus vor. «Es geschieht auch, um Leben zu retten, und deshalb ist
es aus meiner Sicht zynisch, wenn Einige jetzt beginnen, darüber zu
diskutieren, dass gesundheitliche Fragen hintanstehen sollen und dass
wirtschaftliche Fragen vorangehen», sagte er am Sonntagabend im
ARD-«Bericht aus Berlin».
Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) schrieb auf Twitter:
«Öffentliche Forderungen nach Lockerung der Maßnahmen sind verfrüht
und deshalb falsch, solange eine deutliche Verlangsamung der Zahl der
Neuinfektionen nicht erreicht ist!»
Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) wies darauf hin, dass einige
Bundesländer ihre Maßnahmen bereits auf den 20. April, also das Ende
der Osterferien, terminiert haben. Der Bund werde mit den
Ministerpräsidenten am Mittwoch erneut beraten. Die Dauer der
Kontaktbeschränkungen richtet sich nach seinen Worten nach der
Tragfähigkeit des Gesundheitssystems. Der «essenziellste Maßstab» s
ei
es, dass jeder stationär behandelt werden könne, für den dies nötig
sei, erklärte er in der ZDF-Sendung «Berlin direkt». Dazu müsse die
Verdopplung der Infektionszahlen von derzeit alle sechs Tage auf zehn
oder mehr Tage verlangsamt werden.
Hamburgs Regierungschef Peter Tschentscher (SPD) riet in der ARD bei
Anne Will: «Die Wirkung solcher Maßnahmen kommt eben erst mit einer
bestimmten Verzögerung. Deswegen muss man jetzt wirklich die Nerven
behalten.» Und seine Kollegin in Mecklenburg-Vorpommern, Manuela
Schwesig (SPD), regte in den ARD-«Tagesthemen» gar an, «dass wir das
Kontaktverbot Richtung Osterferien noch einmal uns anschauen müssen
und in meinen Augen eher noch konkretisieren und verschärfen müssen».
Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet setzte den
Schwerpunkt dagegen abermals etwas anders. «Wir müssen strikt die
Kontaktverbote einhalten, ohne Wenn und Aber», schrieb er auf
Twitter. Aber: «Transparenz über die ethische Abwägung von Virologen,
Soziologen, Ethikern, Juristen, Ökonomen und Psychologen für die Zeit
danach muss heute vorbereitet werden. Politik muss Abwägungen
erklären.»
Und Grünen-Bundestagsfraktionschefin Katrin Göring-Eckardt forderte
in der Düsseldorfer «Rheinischen Post» (Montag): «Wir brauchen
Klarheit, Verlässlichkeit und eine Strategie für die Zeit danach, um
die Bevölkerung auf dem schwierigen Weg durch die Krise mitzunehmen.»
Wie ihr Kollege Anton Hofreiter setzte sie auch auf konsequente
Einhaltung der Maßnahmen. Hofreiter sagte der «Passauer Neuen Presse»
(Montag): «Wichtig ist, dass wir uns jetzt auf die nächste Phase der
Epidemie-Bekämpfung vorbereiten. Wir müssen raus aus der Situation,
dass wir entweder das Leben von Menschen gefährden oder unsere
Wirtschaft abwürgen.»
Maßgeblich angeheizt worden war die Lockerungsdebatte von der
Wirtschaft, die unter den Beschränkungen stöhnt, und
Wirtschaftspolitikern. Aber auch der Präsident des Deutschen
Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, forderte von
der Regierung, sich jetzt mit dem Ausstieg aus der umfassenden
Lahmlegung zu beschäftigen. Er erwarte nicht, dass sie bereits einen
Zeitpunkt dafür nenne, sagte er dem Berliner «Tagesspiegel» (Montag).
Allerdings sei eine frühzeitige Kommunikation der Strategie wichtig,
um Wirtschaft und Beschäftigten Vertrauen und Sicherheit zu geben.
Und sogar von Medizinerseite gibt es Forderungen, die Gesamtwirkungen
im Auge zu behalten. «Man muss aufpassen, dass man aus Ohnmacht vor
dieser Situation nicht überschießende Handlungen vornimmt, die
möglicherweise mehr Schaden anrichten können als die Infektion
selbst», sagte der Abteilungsleiter Epidemiologie am Braunschweiger
Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, Gerárd Krause, dem ZDF. Er
verwies auf Gesundheitsschäden durch Arbeitslosigkeit und wohl auch
Bewegungseinschränkungen. «Ich bin der Meinung, dass wir den
Schwerpunkt unserer Aufmerksamkeit und auch unserer Ressourcen auf
den Schutz des Risikogruppen richten sollten und dass wir versuchen
sollten, möglichst schnell diese sehr generalisierten
Ausgangsbeschränkungen und Geschäftsschließungen zu lockern.»