Von der Leyen: EU kann sich in der Corona-Krise neu erfinden Von Verena Schmitt-Roschmann, dpa

Seit Ausbruch der Pandemie ging in der Europäischen Union vieles
auseinander - vor allem durch einseitige Grenzkontrollen. Zerbricht
die Gemeinschaft daran? «Wir haben es selbst in der Hand», sagt
Kommissionschefin von der Leyen der Deutschen Presse-Agentur.

Brüssel (dpa) - Nach den Alleingängen etlicher EU-Länder in der
Corona-Krise erwartet Kommissionschefin Ursula von der Leyen jetzt
ein Umsteuern. Man habe «in den Abgrund geschaut», sagte von der
Leyen der Deutschen Presse-Agentur mit Blick auf die neuen
Grenzkontrollen in der Europäischen Union. Sie warnte vor einer
Vertiefung der wirtschaftlichen Kluft, vor allem mit Blick auf die
Notlage Italiens. Allerdings sorgte von der Leyen selbst für Ärger in
Rom mit Äußerungen zu sogenannten Corona-Bonds.

Gemeint ist eine gemeinsame Schuldenaufnahme, die Italien und andere
EU-Länder fordern und die unter anderen Deutschland ablehnt. «Das
Wort Corona-Bond ist ja eigentlich nur ein Schlagwort», sagte von der
Leyen. «Dahinter steht doch eher die größere Frage der Haftung. Und
da sind die Vorbehalte in Deutschland, aber auch in anderen Ländern
berechtigt.»

Obwohl sich die Kommissionschefin letztlich nicht festlegte und auf
erwartete Vorschläge der Eurogruppe verwies, reagierte Italien
empört. «Die Europäische Union hat eine Verabredung mit der
Geschichte, und die Geschichte wartet nicht», erklärte Regierungschef
Giuseppe Conte. Die gemeinsame Antwort der EU auf den
Coronavirus-Notstand müsse «stark, kraftvoll und kohärent» sein. Vo
n
der Leyen stellte daraufhin klar, dass alle nach den EU-Verträgen
zulässigen Optionen weiter auf dem Tisch seien.

Im dem dpa-Interview betonte sie Fortschritte bei gegenseitigen
Hilfen der EU-Staaten und kündigte auch eine gemeinsame Strategie für
ein Ende der Kontaktsperren an. Mit Experten prüfe sie, «wann wir
nach und nach die Maßnahmen der «sozialen Distanz» wieder lockern
könnten», sagte von der Leyen. «Das darf nicht zu früh passieren,
weil sonst das Risiko ist, dass das Virus wieder aufflackert.
Andererseits muss es so schnell wie möglich gehen, damit unsere
Wirtschaft nicht unnötig weiter leidet.» Wie lange das dauern werde,
könne heute niemand präzise vorhersagen. Das müsse man von Woche zu
Woche neu prüfen.

Die Grenzschließungen einzelner EU-Staaten hätten das Coronavirus
nicht aufgehalten, aber vielen Firmen sehr geschadet und wichtige
Lieferketten in Europa unterbrochen, kritisierte von der Leyen. Dabei
habe nur der Binnenmarkt die EU so wohlhabend und stark gemacht. Nun
wachse die Erkenntnis wieder, dass jeder EU-Staat mit gegenseitiger
Hilfe bessere Karten habe. «Deswegen liegt in dieser großen Krise
auch die Chance, dass sich Europa noch einmal neu erfindet», sagte
von der Leyen.

Auf die Frage, ob die EU zerbrechen könnte, sagte sie: «Wir haben es
selbst in der Hand. Wir haben anfangs in den Abgrund geschaut, aber
wir haben in dieser Krise auch wieder rasch das Positive und den
Zusammenhalt gesehen.»

Gegen Kritik des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder, der
mehr Einsatz der Kommission gefordert hatte, wehrte sich von der
Leyen. «Das Vertrauen der Mitgliedsstaaten ist da. Deswegen wurde die
Kommission vom Rat mit der Exit-Strategie und dem Wiederaufbauplan
betraut. Das spricht für sich.»

Ihre zentralen Projekte Klimaschutz und Digitalisierung will von der
Leyen nicht aufgeben. «Die werden beim Wiederaufbau eine ganz
dominante Rolle spielen», sagte sie. «Wir werden in ganz Europa
massiv neu investieren müssen. Dabei sollten wir ganz bewusst auf
Zukunftstechnologien setzen und auf saubere Technologien. Der
Klimawandel geht ja nicht weg, weil ein gefährliches Virus
grassiert.»