Rätsel um Klovid-19 - Warum wir Toilettenpapier hamstern Von Nico Pointner, dpa

Auge um Auge, Blatt um Blatt: In der Krise horten die Deutschen
Klopapier wie verrückt. Es ist das Lieblingsprodukt der
Hamsterkäufer. Wie lässt sich der Hype ums «weiße Gold» erkläre
n?

Stuttgart (dpa) - Es geht längst nicht mehr um Falten oder Knüllen,
es geht ums Ganze in Deutschland. Mit bangem Blick schauen viele
Menschen auf die letzte Rolle. Leere Regale treiben Kunden
Schweißperlen auf die Stirn. Wenn überhaupt noch was da ist, darf man
in vielen Läden nur noch ein Päckchen pro Person mitnehmen. Der Krieg
ums Klopapier ist in vollem Gange. Im Netz kursieren Videos über
Rangeleien an Supermarktkassen. Ein Dortmunder Bäcker heitert mit
Klopapier-Kuchen seine Kunden auf. Der Hype um Klopapier scheint
diese Tage mindestens so ansteckend zu sein wie das Coronavirus
selbst. Einige Erklärungsversuche für den Boom.

GRUNDVERSORGUNG - Ist Klopapier systemrelevant? Man kann es nicht
essen, sich nicht damit zudecken und es nicht als Waffe einsetzen
(wenn höchstens als sehr weiches Wurfgeschoss, aber das dürfte den
Angreifer wenig beeindrucken). Klopapier sichert nicht das Überleben
der menschlichen Spezies - und schützt ganz bestimmt nicht vor dem
Coronavirus. Dennoch gehört Toilettenpapier zur Grundversorgung in
jedem Haushalt. Nach dem Spitzenreiter Nordamerika ist Westeuropa
beim Verbrauch von Hygienepapier ganz vorne dabei.

Toilettenpapier wird immer gebraucht. Schlecht wird es auch nicht.
Klopapier sei nie ein Fehlkauf, den man hinterher bereue, erklärt
Wirtschaftspsychologin Anja Achtziger von der Zeppelin-Universität in
Friedrichshafen. «Man kauft es sowieso routinemäßig.» Das Bundesamt

für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe rät zum vernünftigen
Vorrat: Wenn man mit einer Packung à 8 Rollen 10 Tage auskomme,
sollte man zwei Packungen im Haus haben.

KONTROLLVERLUST - Die Menschen fühlen sich in der Corona-Krise
machtlos, stehen einem unsichtbaren Feind gegenüber. «Wenn wir uns in
einer Situation ohnmächtig fühlen, Angst vor der Zukunft und um die
Existenz haben, dann suchen sich viele Menschen ein anderes möglichst
konkretes Gebiet, um Kontrolle auszuüben, um das Gefühl zu bekommen,
ihr Leben im Griff zu haben», erklärt der Darmstädter Psychotherapeut

Michael Huppertz. Klopapier stehe für Kontrolle. Mit Zwangshandlungen
wie dem Hamstern soll die Angst bewältigt werden.

REINLICHKEITSBEDÜRFNIS - Unhygienische Zustände seien laut Huppertz
für einige Menschen viel schlimmer als etwa Einschränkungen bei der
Ernährung. «Wenn ich keine Marmelade kriege, ess ich Honig oder
einfach Brot», sagt er. «Aber beim Gedanken, kein Klopapier zu haben,
geraten manche Leute in Panik.» Es gehe um Sauberkeit, die intimsten
Bedürfnisse des Menschen - bis hin zur eigenen Würde. «Den Deutschen

ist Hygiene besonders wichtig», sagt er. «Das ist tief in unserer
Kultur verankert.» Psychoanalytiker Gottfried Barth aus Tübingen
verweist auf die anale Phase. Unbewusst gehe es beim Klopapierkäufer
um die Vorstellung, die Bedrohung auszuscheiden und sich von der
Angst zu säubern.

LIEFERKETTEN - Hygieneartikeln werden weniger nachbestellt als etwa
Lebensmittel, weil sie normalerweise weniger nachgefragt werden. Von
Februar zu März 2020 ist aber der Absatz von Klopapier nach Angaben
des Bundesverbands des Deutschen Lebensmittelhandels um rund 700
Prozent nach oben geschossen. Damit ist jede Logistik schlicht
überfordert. «Wir freuen uns natürlich über die Aufmerksamkeit»,

kommentiert Michaela Wingefeld, Sprecherin des schwedischen
Unternehmens Essity, einem führenden Klopapierhersteller, die
Nachfrage. «Klopapier ist normalerweise nicht so das Rennerprodukt.»
Aber Wingefeld spricht auch von einem gewissen Druck in der
Produktion. Am größten europäischen Standort in Mannheim haben sie
diese hochgefahren, arbeiten rund um die Uhr, sieben Tage die Woche.
«Es ist wichtig, dass wir wieder auf ein normales Level
zurückkommen.»

NACHAHMEREFFEKT - Es ist ein Dilemma: Eigentlich will ja niemand
hamstern. Aber ohne Klopapier will erst recht keiner dastehen. Der
Mensch ist ein Herdentier. «Andere fangen an, viel Toilettenpapier zu
kaufen - also mache ich es auch», erklärt Wirtschaftspsychologin
Achtziger. «Und dazu kommt vermutlich noch verstärkend, dass im Job,
in der Familie, unter Freunden darüber geredet wird, ob man und wenn
ja wie viel Toilettenpapier bereits gehortet hat.» Die Außenseiter
werden nervös - und besorgen sich selbst ein paar Rollen zur
Beruhigung. Durch diesen Teufelskreis wird der Mangel zur
selbsterfüllenden Prophezeiung.

KULTURELLE EIGENHEITEN - Michaela Wingefeld berichtet aus
Fabrikanten-Sicht von einer gestiegenen Nachfrage nach Klopapier auch
in anderen Ländern. Als in China das Coronavirus ausgebrochen ist,
habe man in Deutschland bereits die Bestände in den Lagern
hochgefahren. «Wir denken, dass das Hamsterphänomen sich schneller
verbreitet als das Coronavirus.» Klopapier wird aber längst nicht
überall gehortet. An vielen Orten etwa im arabischen Raum wird es gar
nicht benutzt - dort zieht man Wasser vor. Generell gilt: Andere
Länder, andere Hamsterkäufe. In Italien stehen die Menschen etwa
häufig vor leeren Weinregalen. Die Niederländer hamstern wiederum -
welch Überraschung - Marihuana.