SPD-Chef warnt vor Schüren falscher Erwartungen in Corona-Krise

Nach der Kanzlerin machen auch führende SPD-Politiker deutlich, dass
eine Lockerung der Corona-Maßnahmen derzeit noch nicht ansteht.
NRW-Ministerpräsident Laschet sieht aber jetzt die Zeit, «Maßstäb

für die Rückkehr ins soziale Leben zu entwickeln.

Berlin (dpa) - In der Debatte über die Einschränkungen wegen der
Corona-Krise bekommt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU)
Unterstützung vom Koalitionspartner SPD. Die schnellstmögliche
Rückkehr zur Normalität sei «unser aller Ziel», sagte SPD-Chef
Norbert Walter-Borjans den Zeitungen der Funke-Mediengruppe
(Sonntag). «Aber so weit sind wir noch nicht. Die Bundeskanzlerin hat
mit ihrer Mahnung recht. Die Spitze der Infektionswelle steht uns
noch bevor.»

Merkel hatte die Bürger am Samstag um Geduld angesichts der
Corona-Krise gebeten. «Noch geben uns die täglichen Zahlen der
Neuinfektionen leider keinen Grund, nachzulassen oder die Regeln zu
lockern», sagte sie in ihrem Wochenend-Podcast. Kanzleramtschef Helge
Braun (CDU) hatte dem «Tagesspiegel» gesagt: «Wir reden jetzt bis
zum
20. April nicht über irgendwelche Erleichterungen.»

Walter-Borjans sagte, selbstverständlich müsse die schrittweise
Rücknahme der Einschränkungen verantwortungsbewusst geplant werden.
«Aber bitte in dem Wissen, dass das Schüren falscher Erwartungen die
mühsam erreichten Verhaltensänderungen aufs Spiel setzt», warnte
Walter-Borjans. «Im schlimmsten Fall droht dann beides: eine
desaströse Infektionswelle und ein wirtschaftlicher Kollaps.»

Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) sagte der «Bild am Sonntag»:
«Erst mal gilt es abzuwarten, welche Wirkung die Maßnahmen zeigen.»
Um den 20. April wisse man da hoffentlich mehr. «Jetzt geht es darum,
dass wir alle uns an die Regeln halten, Abstand bewahren und die
Ansteckung verlangsamen.» Der Vizekanzler mahnte: «Ich rate allen
dringend davon ab, eine Lockerung an wirtschaftliche Fragen zu
knüpfen.» Es gehe um Leben und Tod. «Ich wende mich gegen jede dieser

zynischen Erwägungen, dass man den Tod von Menschen in Kauf nehmen
muss, damit die Wirtschaft läuft. Solche Abwägungen halte ich für
unerträglich.»

Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet
(CDU) forderte unterdessen, schon jetzt über eine Strategie für eine

künftige Lockerung der Einschränkungen nachzudenken. «Der Satz, es
sei zu früh, über eine Exit-Strategie nachzudenken, ist falsch»,
schrieb Laschet in einem Gastbeitrag in der Zeitung «Welt am
Sonntag». «Jetzt ist die Zeit, Maßstäbe für die Rückkehr ins so
ziale
und öffentliche Leben zu entwickeln, damit auch diese Entscheidung
anhand transparenter Kriterien erfolgt.» Auch er betonte am
Samstagabend in der Sendung «ZDF spezial» aber, eines sei klar: «Man

kann jetzt nicht über das Ende der Maßnahmen spekulieren.» Ende
April, nach Ostern sei der Zeitpunkt, wo das untersucht werden solle.
«Und bis dahin muss sich jeder an die Regeln halten.»

FDP-Chef Christian Lindner hatte bereits eine Exit-Strategie
gefordert und legte nun nach: «Der jetzige Zustand darf keinen Tag
länger dauern, als es medizinisch geboten ist», sagte Lindner den
Zeitungen der Funke-Mediengruppe (Sonntag). «Wir müssen uns intensiv
mit der Frage beschäftigen, was nach den Ausgangsbeschränkungen
kommt.» Der jetzige Zustand sei für jeden Einzelnen und für das
wirtschaftliche Leben eine große Belastung.

In Deutschland sind bis Samstagabend mehr als 54 200 Infektionen mit
dem neuen Coronavirus registriert worden. Mindestens 397 mit
Sars-CoV-2 Infizierte sind den Angaben zufolge bislang bundesweit
gestorben. Um die Ausbreitung einzudämmen, hatten Merkel und die
Ministerpräsidenten in zwei Schritten weitreichende Beschränkungen
des öffentlichen Lebens beschlossen.

Grünen-Chefin Annalena Baerbock argumentierte, um entscheiden zu
können, wann Einschränkungen gelockert werden könnten, müsse
Deutschland die nächsten Wochen nutzen, um das Gesundheitssystem zu
stärken. «Das gilt vor allem auch für die Ausstattung mit
Schutzkleidung», sagte sie der «Frankfurter Allgemeinen
Sonntagszeitung» («FAS»). «Wenn andere Länder in kürzester Zeit

Millionen von Atemschutzmasken produzieren können, dann sollte auch
unser Industrieland dazu in der Lage sein.» Sie bekräftigte ihre
Forderung nach einer «Pandemiewirtschaft».

Die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Bärbel Bas sagte
der «FAS», in Deutschland gebe es zu wenig Schutzmaterial, zu wenig
Testkapazität und zu wenig Beatmungsgeräte. «Ich verlange deshalb von

Bund und Ländern Strategien, wie man diese Kapazitäten in Deutschland
hochfahren kann.»

In der sich zuspitzenden Corona-Krise haben die Parteien der großen
Koalition einer Umfrage zufolge in der Wählergunst zugelegt. Im
«Sonntagstrend» der «Bild am Sonntag» erreichen Union und
SPD gemeinsam erstmals seit Juni 2018 wieder 50 Prozent der Stimmen,
wie die Zeitung berichtete. Vor allem die Union ist im Aufwind: Sie
gewinnt im Vergleich zur Vorwoche vier Prozentpunkte und liegt nun
bei 32 Prozent - vor drei Wochen waren CDU und CSU zusammen noch auf
24 Prozent gekommen. Die SPD legt innerhalb einer Woche zwei
Prozentpunkte zu und kommt auf 18 Prozent.

Der Historiker Heinrich August Winkler forderte wegen der Folgen der
Corona-Pandemie einen Lastenausgleich: «Es wäre eine Illusion zu
meinen, allein durch neue Schulden ließen sich die Folgelasten dieser
Pandemie meistern», schrieb er in einem Beitrag für den
«Tagesspiegel» (Sonntag). «Deutschland wird um eine Umverteilung
großen Stils nicht herumkommen - einen Lastenausgleich zwischen
denen, die unter den materiellen Folgen dieser Krise weniger zu
leiden haben als die, deren berufliche Existenz auf dem Spiel steht.»
Möglicherweise würden die Kosten, die auf Deutschland zukommen, noch
höher sein als die der deutschen Einheit nach 1990.