Amtsarzt: Berlins Infektionszahlen sind unterschätzt

Patrick Larscheid hat jeden Tag mit der Coronavirus-Pandemie zu tun.
Die offiziellen Zahlen aus der Hauptstadt könnten die Lage gar nicht
abbilden, kritisiert der Arzt. Denn für Tests gibt es ein Tageslimit.

Berlin (dpa/bb) - Der Reinickendorfer Amtsarzt Patrick Larscheid hält
die aktuellen Infektionszahlen in der Coronavirus-Pandemie für die
Hauptstadt für unterschätzt. «Der Fallzahlanstieg kann ja nur so gro
ß
sein wie die Testkapazität ist», sagte er am Samstag der Deutschen
Presse-Agentur. «Das ist der Knackpunkt. Die Tests in Berlin sind
weiter auf 2000 am Tag limitiert. Der Bedarf geht aber darüber
hinaus.» Für eine Abschätzung, ob Schutzmaßnahmen wie
Ausgangsbeschränkungen wirkten, ist es nach Larscheids Meinung allein
wegen dieser unsicheren Datenlage noch viel zu früh.

In Berlin waren mit Stand von Freitagabend offiziell 2152 bestätigte
Coronavirus-Infektionen registriert, darunter acht Todesfälle. 261
Covid-19-Patienten wurden im Krankenhaus behandelt, davon 53 Menschen
auf einer Intensivstation. 645 Erkrankte seien wieder genesen.

Um welchen Faktor die Fallzahlen unterschätzt sein könnten, sei auch
ihm unklar, sagte Larscheid. «Wir haben in Berlin im Moment
schätzungsweise eine Steigerung von 200 bis 400 Fällen täglich. Aber

aufgrund der begrenzten Testkapazitäten sehen wir die nicht alle in
der Statistik. Das ist das Problem.» Deshalb sei in Vergleichen der
prozentualen Steigerungen auf Basis der offiziellen Berliner
Fallzahlen «ein Denkfehler», ergänzte er. Das Landesamt für
Gesundheit und Soziales hatte am Donnerstag mit Blick auf die
Vorwoche bereits einen Rückgang der prozentualen Steigerungen
errechnet.

Für mehr Tests brauche man einfach mehr Geräte und Reagenzien, sagte
Larscheid. «Aber da sind wir marktabhängig. Das sind Dinge, die sind
so speziell, die wachsen nicht aus dem Boden.» Weiterhin führten in
Berlin nur einzelne Labore und das Robert Koch-Institut diese Tests
durch. «Da kann man nicht einfach andere mitmachen lassen. Wir
brauchen die Hardware und bestimmte Reagenzien, die im Bereich dieser
Diagnostik auch nicht einfach hektoliterweise hergestellt werden
können.» Die Gesundheitsverwaltung habe 10 000 Tests pro Tag
angekündigt. «Frau Kalayci war aber so klug, den Zeitraum dafür
offenzulassen.»

Dennoch sei es in Reinickendorf weiter gut möglich, Kontaktpersonen
zu erfassen und nachzuverfolgen, betonte Larscheid. «Wir können,
wollen und müssen das auch leisten - bis wir umfallen. Weil es nach
wie vor die beste Methode ist, die Ausbreitung zu verzögern», urteilt
Larscheid. Bislang seien rund ein Viertel der Tests bei engen
Kontaktpersonen positiv.

Doch auch bei der Nachverfolgung könnten nicht alle potenziellen
Virusträger getestet werden. «Wenn wir einen Berg vor uns
herschieben, den wir am ersten Tag nicht schaffen, dann können wir
ihn am zweiten Tag noch viel weniger abarbeiten - weil der nächste
Berg vom zweiten Tag dazugekommen ist», erläuterte Larscheid. Eine
Zeitachse für seriöse Schätzungen, wie sich die Pandemie in Berlin
entwickelt? «Fragen Sie mich das Anfang Mai.»

In allen Berliner Bezirken sind nach Larscheids Angaben inzwischen
auch einzelne Alten- und Pflegeheime von der Pandemie betroffen.
Müsste es dort noch strengere Maßnahmen zur Eindämmung geben? «Wir

sind nicht weit von einem Besucherstopp entfernt. Ausnahmen sind
eigentlich nur noch Sterbende», sagte er.

«Ein großes Problem sind die Pflegenden. Sie tragen den Erreger auch
hinein. Und auf sie können wir ja nun schlecht verzichten.» Einen
Fall wie Würzburg mit zwölf Toten in einem Seniorenheim habe Berlin
zum Glück noch nicht. «Aber wegen der miserablen Ausstattung mit
Barrieremaßnahmen und auch Basishygienemaßnahmen schon im Normalfall
kann sich so etwas an jedem Ort in Deutschland wiederholen», ergänzte
er. «Es ist nicht so, dass in Würzburg auffällig große Fehler gemac
ht
wurden.»