Familien auf engem Raum: Die Sorge vor häuslicher Gewalt wächst

Um die Coronavirus-Pandemie einzudämmen, sollen die Menschen zu Hause
bleiben. Für die einen ist das nur nervig, für viele andere eine
Gefahr: Opfer von Gewalt in den eigenen vier Wänden sind mit ihren
Peinigern quasi eingesperrt. Experten schlagen Alarm.

Berlin/Straßburg (dpa) - Kitas und Schulen zu, Eltern und Kinder den
ganzen Tag zu Hause, Nerven blank - die Ausgangs-Beschränkungen in
der Corona-Krise lassen die Sorge vor häuslicher Gewalt wachsen.
Berichte aus verschiedenen Staaten zeigten bereits, dass Kinder und
Frauen derzeit in den eigenen vier Wänden einem höheren
Missbrauchsrisiko ausgesetzt seien, sagte die Generalsekretärin des
Europarats, Marija Pejcinovic Buric, der Deutschen Presse-Agentur.
Neben dem Gewaltrisiko könne die Krise Frauen auch wirtschaftlich
treffen und ihre finanzielle Unabhängigkeit bedrohen. Auch deutsche
Experten sind alarmiert, Bund und Länder wollen gegensteuern.

Berichte aus Frankreich zeigten etwa, dass viele Frauen wegen der
Beschränkungen keine Notrufstellen anrufen könnten, sagte Pejcinovic
Buric. Bei den Hilfe-Telefonnummern gingen gut viermal weniger Anrufe
ein als normalerweise. Dafür hätten Sofortnachrichten im Internet an
Hilfsorganisationen in ganz Europa zugenommen. Das könne bedeuten,
dass Täter ihre Opfer davon abhalten, telefonisch Hilfe zu suchen. In
Dänemark habe man beobachtet, dass die Zahl der Frauen gestiegen sei,
die Zuflucht in einem Frauenhaus suchten. Der Europarat wacht über
die Menschenrechte in 47 Mitgliedstaaten - neben den EU-Ländern etwa
auch die Schweiz, Russland, Türkei, Ukraine oder Aserbaidschan.

Auch in Deutschland sind Experten alarmiert. «Wir müssen leider mit
dem Schlimmsten rechnen», sagte Jörg Ziercke, Bundesvorsitzender der
Opferschutzorganisation Weißer Ring. «Die Corona-Krise zwingt die
Menschen, in der Familie zu bleiben, hinzu kommen Stressfaktoren wie
finanzielle Sorgen und Zukunftsunsicherheit.» Die Opferhelfer würden
das Problem von Festtagen wie Weihnachten kennen, so Ziercke. «Wenn
die Menschen tagelang zu Hause sind, gehen die Fallzahlen in die
Höhe. Die Kontaktsperre wegen Corona dauert aber sehr viel länger als
Weihnachten, die Stressfaktoren sind auch größer.»

Die Politik in Bund und Ländern hat das Problem auf dem Schirm.
Bundesfrauenministerin Franziska Giffey (SPD) hat mit den
Gleichstellungs- und Frauenministerinnen und -ministern der Länder
Maßnahmen vereinbart - etwa, das Hilfetelefone gegen Gewalt an Frauen
(08000 116 016) und für Schwangere in Not (0800 40 40 020) am Laufen
zu halten. Beratung für Schwangere, die über eine Abtreibung
nachdenken, soll es auch online oder am Telefon geben. Falls
Frauenhäuser überfüllt sind, sollen die Behörden vor Ort prüfen,
ob
etwa leerstehende Hotels und Ferienwohnungen angemietet werden
können.

Experten warnen, dass die Ausgangsbeschränkungen gerade auch für
Kinder gefährlich werden können. Denn dort, wo es schon Gewalt gebe,
werde sie noch einmal schlimmer, erklärte die Leiterin des Lehrstuhls
Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität des
Saarlandes, Tanja Michael. Nach der Schließung von Kitas und Schulen
sowie weitgehenden Kontakt-Verboten wegen der Corona-Pandemie seien
Familien unter sich.

«Die Täter haben jetzt viel mehr Zugriff auf die Kinder und die
Kinder haben weniger Möglichkeiten, nach außen Signale zu senden,
dass etwas nicht stimmt», sagte die Professorin. Hinzu komme, dass
die Täter in der derzeitigen Situation vermutlich «noch schlechter
gelaunt sind als normalerweise». Aus Wuhan in China, wo das
Coronavirus zuerst grassierte, gebe es Untersuchungen dazu: Dortige
Frauenorganisationen hätten in der Quarantäne-Zeit dreimal so viele
Opfer von häuslicher Gewalt registriert. Zudem habe die Polizei
doppelt so viele Notrufe von Frauen bekommen.

Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm
Rörig, sagte dem RBB-Inforadio: «Jeder, der sich im Kinderschutz
engagiert und für das Kindeswohl kämpft, der ist im Moment in größt
er
Sorge.» Die Lage von Kindern, die sexueller Gewalt durch Väter,
Brüder oder Mütter ausgesetzt seien, verschärfe sich «enorm».

Auch die Berliner Gewaltschutzambulanz befürchtet einen Anstieg von
Kindesmisshandlungen. «Die soziale Kontrolle ist derzeit nicht da -
der Bereich, in dem sonst häusliche Gewalt gegen Kinder auffällt,
also in Schulen, Kitas oder bei Tagesmüttern, ist ja gerade
weggefallen», sagte die Vizechefin der Ambulanz, Saskia Etzold.
Verletzungen würden weniger bemerkt. «Wir müssen wohl davon ausgehen,

dass innerfamiliäre Gewalt in den nächsten Wochen deutlich ansteigt.»

Die Ambulanz gehört zur Berliner Charité. Opfer können dort ihre
Verletzungen vertraulich und kostenlos dokumentieren lassen.