Fußball zwischen Kollaps-Angst und Wertediskurs: Bleibt alles anders? Von Arne Richter, dpa

Der Fußball Marke Nimmersatt hat Sendepause. Die Corona-Krise zwingt
das Milliarden-Business in einen Überlebensmodus. Der Fußball bleibt
dabei ein Spiegel der Gesellschaft: Die Sehnsucht nach Rückbesinnung
und Entschleunigung erfasst auch führende Köpfe der Branche.

Berlin (dpa) - Sogar Uli Hoeneß und Gianni Infantino glauben an eine
Zeitenwende im Fußball. Es ist die Zeit der Rechenschieber, der engen
Kalkulationen, es ist die Zeit der Sorge ums wirtschaftliche
Überleben. Wenn sich die 36 Profi-Clubs aus Bundesliga und 2. Liga am
Dienstag zu ihrer nächsten außerplanmäßigen Mitgliederversammlung d
er
Deutschen Fußball Liga in der Corona-Krise treffen, geht es primär um
die Verlängerung der Liga-Zwangspause bis zum 30. April. Es geht auch
um die Suche nach einem Notfallspielplan für die noch ausstehenden 82
Bundesliga-Partien. Existenzgefährdende Einnahmeverluste von rund 750
Millionen Euro sollen vermieden werden.

Für den Fußball steht aber viel mehr auf dem Spiel. Längst geht es
auch um eine Weichenstellung und ein Krisenszenario, das eine
dauerhafte Sicherung des Profifußballs ermöglicht - und vielleicht
geht es auch um grundlegende Änderungen des von der Pandemie in
seinen Grundfesten erschütterten Milliarden-Business für die Zeit
nach der großen Krise.

Wie soll der Fußball der Zukunft aussehen? Ist das Rad überdreht? Ist
weniger vielleicht tatsächlich mehr? Die Einschnitte könnten über die

Zusagen vieler Spieler und Funktionäre auf einen Gehaltsverzicht oder
das 20-Millionen-Euro-Versprechen der deutschen Königsklassen-Clubs
aus München, Dortmund, Leipzig und Leverkusen weit hinausgehen.

Kein geringerer als Weltverbandschef Infantino - sonst ein
gnadenloser Treiber für neue Märkte und Geldquellen - hat sich zum
Initiator einer Grundsatzdebatte um eine Fußball-Entschleunigung
gemacht. «Vielleicht können wir den Fußball reformieren, indem wir
einen Schritt zurück machen», sagte Infantino anlässlich seines 50.
Geburtstags zu Wochenbeginn in einem Interview der italienischen
Tageszeitung «Gazzetta dello Sport». Der Schweizer schlug
vor: «Weniger Turniere, dafür interessantere. Vielleicht weniger
Teams, dafür größere Ausgeglichenheit. Weniger Spiele, um die
Gesundheit der Spieler zu schützen, dafür umkämpftere Partien.»

Das klang so, als würde der Papst das Zölibat geißeln. Gegner werfen

dem Schweizer, der die WM auf 48 Teams aufgebläht und eine Club-WM
mit 24 statt sieben Mannschaften forciert hat, vor, in Zeiten der
Krise mit Machtinstinkt zu sagen, was die verunsicherten Fans hören
wollen. Zumindest macht Infantino aber eine Debatte möglich, die vor
Corona nur Fußball-Romantiker führten.

Ewald Lienen steht nicht im Verdacht, mit Infantino auf einer
Wellenlänge zu liegen. Im Podcast von «Kicker» und DAZN setzte der
Technische Direktor des FC St. Pauli nun einen konsum- und
wirtschaftskritischen Akzent: «Warum muss ein Club 500 Millionen Euro
haben - ein anderer nur 50? Und warum muss ein einziger Spieler zehn
oder 20 Millionen Euro verdienen?», fragte Lienen. Er prangerte
namentlich die aus Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten
alimentierten Clubs von Paris Saint-Germain und Manchester City an.

Sein Club-Chef Oke Göttlich wurde konkret: «Wir müssen das bisherig
e
System im Profifußball hinterfragen, weil es einem neuen System des
solidarischen Miteinanders wird weichen müssen», sagte er dem
«Hamburger Abendblatt». Soll heißen: «Gleichverteilen von
Einnahmeströmen» und «keine zügellosen Finanzstrategien», meinte

Göttlich und sprach von einem «gesundschrumpfen».

Solche Ideen sind längst kein Privileg des Hamburger Kiez-Clubs mehr.
Auch Bayerns Ex-Präsident Uli Hoeneß sieht die Zeit für Änderungen

gekommen. «Die jetzige Situation ist eine Gefahr, aber auch eine
Chance, dass die Koordinaten etwas verändert werden können», sagte er

dem «Kicker». «Es wird sehr wahrscheinlich eine neue Fußballwelt
geben.»

Wie die Sozialreform des Fußballs konkret aussehen könnte, ist aber
noch reine Gedankenspielerei. Eine Gehaltsobergrenze wird als Option
genannt. Dreistellige Millionentransfers wird es womöglich nicht so
schnell wieder geben. Eine ökonomische Gegenströmung fordert den
Wegfall der 50+1-Regel, wodurch Investoren neues Geld in den klammen
deutschen Fußball pumpen könnten. Das wäre eine Marktradikalisierung.


Fredi Bobic, dieser Tage auch ein nachdenklicher Geist, hat ohnehin
Zweifel: «Es hat immer Unterschiede zwischen den Clubs gegeben und es
wird sie auch immer geben, unabhängig von der Krise», sagte Eintracht
Frankfurts Sportvorstand der Zeitung «Die Welt».

Joachim Löws Nationalmannschaftspsychologe Hans-Dieter Hermann glaubt
indes an einen generellen gesellschaftlichen Sinneswandel. «Was
hinterher genau passiert, kann keiner sagen. Aber wenn ich sehe, wie
stark sich - trotz einiger Gegenbeispiele beim Einkaufen - momentan
Solidarität und Zusammenhalt bei vielen entwickelt, bin ich sehr
optimistisch, dass wir von diesen positiven Nebenwirkungen auch nach
der Corona-Krise noch profitieren werden. Unsere Kultur erhält gerade
die Chance, im positiven Sinne wieder zu einer neuen Art des
Miteinander und Füreinander zu finden», sagte er dem «Mannheimer
Morgen».

Dass der Fußball zuletzt eben nicht abseits der generellen
gesellschaftlichen Diskurse stand, wurde auch bei Themen wie
Rassismus oder Homophobie deutlich. Nun wird der Fußball auch zum
Spiegelbild des großen Ganzen in der Sehnsucht nach einer Reduzierung
auf das Wesentliche. Erster Fürsprecher war Joachim Löw mit seinen
viel beachteten philosophisch anmutenden Aussagen.

«Ich habe auch so das Gefühl, dass die Welt und vielleicht auch die
Erde sich so ein bisschen stemmt und wehrt gegen die Menschen und
deren Tun, denn der Mensch denkt immer, dass er alles weiß und alles
kann und das Tempo, das wir so die letzten Jahre irgendwie auch
vorgegeben haben, das war schon auch nicht mehr zu toppen», sagte der
Bundestrainer und prangerte «Macht, Gier und Profit» an. Der Chef der
Europäischen Clubvereinigung (ECA), Andrea Agnelli, sprach von einer
«existenziellen Bedrohung» des europäischen Fußballs.

DFB-Direktor Oliver Bierhoff - oft gescholten für seinen
Marketing-Fokus - glaubt an einen anhaltenden Solidarisierungseffekt
im Profi-Fußball. «Ich glaube, im Fußball wird das auch noch mal
deutlicher, dass das Wichtigste das Spiel ist. Dass es stattfindet,
dass wir Freude daran haben, dass das Schöne im Spiel immer wieder
transportiert wird», sagte der 51-Jährige RTL/ntv-Redaktion.
Eigeninteressen, die durch starken Kommerz und eine hohe
Öffentlichkeitswirksamkeit in den vergangenen Jahren entstanden
seien, könnten abnehmen. Möglicherweise werde häufiger gesagt: «Wir

sind in der Krise, wir müssen zusammenhalten», meinte Bierhoff.

Derzeit fühle er sich an seine Zeit als Profi in Italien erinnert.
«Als ich 1991 kam, florierte die Wirtschaft. Es war überall genug
Geld da und es wurde ausgegeben. Und irgendwann kamen die
Manipulationen, auf einmal wurden auch bei kleinen Vereinen
Schwarzgelder aufgedeckt. Die Wirtschaft brach zusammen, viele
Skandale gab es. Und da gab es eine Bereinigung bei Vereinen bei
Gehältern um 50 Prozent. Und das ging dann auch», sagte Bierhoff.

Abseits des Fußballs zeichnete der Zukunftsforscher Matthias Horx
eine positives Zukunftsbild: «Krisen wirken vor allem dadurch, dass
sie alte Phänomene auflösen, überflüssig machen.» Übertragen au
f den
Fußball könnte das heißen: Keine exorbitanten Ablösesummen und
Gehälter mehr, keine Abschottung der Stars von den Fans und
Rückbesinnung auf den reinen Sport. Es gibt aber auch andere Stimmen:
«Plötzlich sind wir alle gleich. Vielleicht nehmen wir das für die
Zukunft mit», sagte Hertha-Profi Vedad Ibisevic.

DFL-Chef Christian Seifert, der nach der ersten Mitgliederversammlung
ungewohnt ergriffen eingestand, dass die Bundesliga nun mal ein
«Produkt» verkaufe, sucht noch nach neuen Koordinaten. Ohne
Herstellung keine Bezahlung. Ohne Bezahlung keine Herstellung, lautet
sein Teufelskreis. Infantino blickte in seinem visionär anmutenden
«Gazetta»-Interview auch schon in alten Denkmustern verharrende
voraus Richtung Premiere der derzeit verschobenen Club-WM mit 24
Teams in China. «Wir werden bald entscheiden, ob wir die erste
Ausgabe 2021, 2022 oder spätestens 2023 haben werden», sagte er über

sein millionenschweres Lieblingsprojekt.