Erstmals seit dem 2. Weltkrieg kein Boat Race auf der Themse Von Philip Dethlefs, dpa

Erstmals seit dem 2. Weltkrieg findet das berühmte Bootsrennen
zwischen den Universitäten Oxford und Cambridge nicht statt. Die
plötzlich Absage wegen der Corona-Krise stellt das Leben der
deutschen Teilnehmerin Tina Christmann auf den Kopf.

London (dpa) - Die deutsche Rudererin Tina Christmann erlebt in
diesen Tagen ein wahres Gefühlschaos. Sie sei «verwirrt, traurig und
entspannt zugleich», sagt Christmann. Die Präsidentin des Oxford
University Women's Boat Club hätte am Sonntag eigentlich mit ihrem
Team das berühmte Boat Race auf der Themse bestreiten sollen. Doch
wie viele andere Sportveranstaltungen fiel auch das prestigeträchtige
Rennen gegen die Universität Cambridge der Coronavirus-Pandemie zum
Opfer. Und Christmann hat auf einmal viel Zeit für andere Dinge.

Mehrere Monate hartes Training und «wahnsinnig viel Energie» hat die
24-jährige Studentin mit ihren Kommilitoninnen investiert. «Viele
meiner Mitrudererinnen haben dieses Jahr immense Kompromisse mit
ihrem Studium machen müssen, und gerade für diese Mädels hätte ich
es
mir so gewünscht zu gewinnen», sagt Christmann. Im letzten Jahr hatte
sie mit ihrem Team gegen Cambridge verloren. Eigentlich hatte
Christmann nach dem diesjährigen Boat Race ihre Ruder-Karriere
beenden wollen. Nun überlegt sie, ob sie vielleicht doch noch ein
Jahr dranhängt.

Die Rivalität zwischen den Ruderteams der beiden Universitäten hat
eine fast 200 Jahre lange Tradition. Sie geht auf Charles Wordsworth
und Charles Merrivale zurück, zwei ehemalige Schulkameraden, die sich
wiederbegegneten, als der eine in Oxford und der andere in Cambridge
studierte. Die beiden vereinbarten ein Ruderduell. 1829 fand das
erste Boat Race der Männer statt, seit 1856 wurde es - außer während

des 1. und des 2. Weltkriegs - jährlich ausgetragen. Bis jetzt.

Die Frauen gingen erst mehr als 100 Jahre später an den Start. Seit
1964 rudern auch sie einmal im Jahr gegeneinander. Dass es 2020
erstmals nicht dazu kommt, nennt Christmann eine «notwendige
Enttäuschung». Ein Ereignis dieser Größe könne derzeit einfach ni
cht
stattfinden, sagt sie. Schließlich drängen sich mehr als 250 000
Zuschauer am Ufer der Themse und feuern die Teilnehmer an. Die Gefahr
einer Massenansteckung wäre einfach zu groß.

Bei aller Enttäuschung - die Sportlerin aus Mühlheim am Main kann der
plötzlichen Absage auch etwas Positives abgewinnen. «Es fühlt sich
an, als hätte ich zwei kostenlose Wochen bekommen, mit denen ich
nicht gerechnet habe», sagt Christmann, die im Alter von elf Jahren
das Rudern für sich entdeckte. «Und auf einmal habe ich unfassbar
viel Zeit zum Arbeiten, Ausspannen und Reflektieren, die ich in den
letzten zehn Jahren nie hatte.»

Bis zur Absage trainierte Christmann, die in Oxford ihren Master in
«Biodiversity, Conservation and Management» macht, zweimal am Tag.
Dafür stand sie täglich um 5:30 Uhr auf. Schon als Kind habe sie
«extrem viel Zeit reingesteckt», erzählt sie. «Einmal hatte ich ein
en
kleinen Streit mit meiner Mutter und habe Hausarrest bekommen. Aber
ich bin ausgebrochen, damit ich zum Training konnte.»

Training ist bei der Ausgangssperre in Großbritannien nicht möglich.
Und Christmann muss sich an ihren neuen Alltag erst gewöhnen. «Es ist
seltsam, meine Trainingskollegen nicht mehr zweimal täglich zu sehen,
und auch auf neuen Indoor-Sport muss ich mich jetzt einstellen.» So
richtig realisiert habe sie das alles noch nicht, berichtet die
24-Jährige. «Auf einmal fühlt sich mein Leben so fremd an.»

Auch private Pläne haben sich durch die Coronavirus-Krise in Luft
aufgelöst. Ein lange geplanter Urlaub mit ihren Eltern ist abgesagt.
«Da macht es Sinn, sich auf das Hier und Jetzt zu fokussieren und
kleine Projekte anzugehen», sagt Christmann. «Ich habe mir
vorgenommen, mein Hausboot, auf dem ich lebe, zu dekorieren, meine
Masterarbeit so schnell wie möglich fertigzuschreiben und - wenn
möglich - ganz viel joggen zu gehen und zu gärtnern.»