Ins Auge des Sturms - Schwedens Sonderweg in der Corona-Krise Von Steffen Trumpf, dpa

Im Gegensatz zu Deutschland und den meisten anderen EU-Ländern geht
Schweden mit deutlich mehr Freizügigkeit für seine Bürger gegen die
Coronavirus-Krise vor. Nicht alle im Land finden diesen Weg gut. In
Stockholm macht sich erste Unruhe breit.

Stockholm (dpa) - Was der Virologe Christian Drosten für die
Bundesrepublik ist, ist Anders Tegnell für die Schweden: Der oberste
Epidemiologe in Stockholm ist derzeit der gefragteste Mann im Land,
omnipräsent auf allen Kanälen. Die Meinungen über ihn und seine
Empfehlungen gehen auseinander: Während die einen auf die spezielle
Corona-Strategie ihrer Regierung und ihres momentan wichtigsten
Experten vertrauen, wundern sich die anderen, warum Schweden eine
ganz andere Linie fährt als seine Nachbarn und EU-Partner.

In der Tat geht Schweden in der Corona-Krise einen Sonderweg:
Kindergärten und Grundschulen bis zur neunten Klasse sind anders als
Gymnasien und Unis weiter offen. Das Gleiche gilt für Restaurants,
Kneipen und Cafés, die ihre Gäste seit kurzem aber nur noch am Tisch
bedienen dürfen. Die Skigebiete sind ebenfalls weiter geöffnet, die
Staatsgrenzen für Nicht-Europäer dicht, nicht aber für Bürger der E
U
und der Europäischen Freihandelszone. Und durch Stockholm fahren
weiter mit Pendlern ge- oder überfüllte Busse.

Damit ist Schweden im Grunde das letzte EU-Land ohne extrem scharfe
Maßnahmen gegen Covid-19. Der Kontrast zu dem strikten Vorgehen der
skandinavischen Nachbarn Dänemark und Norwegen und auch demjenigen in
Deutschland könnte größer kaum sein. Man fragt sich: Geht das gut?

Überzeugt von der Strategie

Glaubt man dem Staatsepidemiologen Tegnell, dann wird die schwedische
Strategie aufgehen. «Wir sind überzeugt davon, dass das hier der
richtige Weg ist», sagte er kurz vor dem Wochenende dem Sender SVT.
Im schwedischen Gesundheitswesen baue man sehr auf Vertrauen,
Freiwilligkeit und darauf, eigene Lösungen zu finden, sagte er.

Tegnell, die Regierung von Ministerpräsident Stefan Löfven und die
Gesundheitsbehörden setzen weitgehend auf die Vernunft der
Bevölkerung, auf Empfehlungen an Menschen über 70 zur Vermeidung
enger Kontakte sowie auf das für die Schweden typische Vertrauen in
die politischen Entscheider. Die Ziele im Kampf gegen das Coronavirus
Sars-CoV-2 sind dabei dieselben wie anderswo: Die Virusausbreitung
soll abgebremst werden, damit nicht zu viele Menschen gleichzeitig
schwer erkranken und die Gesundheitssysteme überfordert werden. Die
Folgen für Wirtschaft und Bürger sollen zudem aufgefangen werden.

In der Regierungsstrategie findet sich aber noch ein Zusatz: Gegen
Corona sollten «zur richtigen Zeit die richtigen Maßnahmen» ergriffen

werden, heißt es da. Am Freitag etwa verkündete Löfven, dass
Versammlungen auf maximal 50 Teilnehmer begrenzt werden - bislang lag
die Grenze bei der in Corona-Zeiten äußerst freizügigen Zahl von
maximal 500 Teilnehmern. Das hatte unter anderem dazu geführt, dass
in Skigebieten wie Åre bis vor kurzem noch bis zu 499 Menschen pro
Veranstaltung kräftig Après-Ski feierten.

Mit Veranstaltungen in dieser Größenordnung ist nun vorerst Schluss.
Löfven appellierte dabei am Freitag noch einmal an die schwedische
Besonnenheit. «Wir alle müssen als Individuen unsere Verantwortung
übernehmen», sagte er - und fügte hinzu: «Wir können nicht alle
s
gesetzlich regeln und verbieten.»

Diese freizügige Linie erntet nicht nur Zuspruch. In einem offenen
Brief forderten mehrere hochrangige schwedische Wissenschaftler die
Behörden Mitte der Woche zum Kurswechsel auf. Die Regierung müsse den
Kontakt zwischen den Menschen im Land kräftig einschränken und viel
mehr testen, hieß es. Es sei auch eine gute Idee, etwa Schulen und
Restaurants zu schließen, bis man mehr über die Situation wisse.

«Wir sind eines der Länder der Welt, die die schwächsten Maßnahmen

eingeführt haben», monierte der Molekularbiologe Sten Linnarsson vom
Stockholmer Karolinska-Institut in der Zeitung «Dagens Nyheter». Er
und die weiteren Unterzeichner des Briefes wollten letztlich nur,
dass Schweden internationalen Empfehlungen etwa von der
Weltgesundheitsorganisation WHO folge - wie andere Länder eben auch.

Den richtigen Weg im Kampf gegen Corona kennt dabei noch keiner.
«Niemand weiß, was derzeit richtig und was falsch ist», sagt auch der

Soziologe Fredrik Liljeros von der Universität in Stockholm. Er sieht
einen Grund für den schwedischen Sonderweg in der Tatsache, dass
Wissenschaftler und Behörden in Schweden bereits seit längerem bei
der Forschung zur Ausbreitung von Viren zusammenarbeiteten. «Das
sorgt dafür, dass wir glauben, dass die schwedische Strategie stärker
auf wissenschaftlichem Boden fußt als anderswo», sagte er der
Deutschen Presse-Agentur. Seine Vermutung sei, dass Schwedens
Virologen deshalb selbstbewusster an die Sache herangingen.

Sorge in Stockholm

Bislang gibt es in Schweden knapp 3500 bestätigte Infektionsfälle.
Mehr als 100 Menschen im Land sind bisher an Covid-19 gestorben,
davon fast zwei Drittel in Stockholm. Dort nimmt die Zahl der
Todesfälle seit Tagen zu. Als sie sich von Dienstag auf Mittwoch
innerhalb von 24 Stunden von 19 auf 37 beinahe verdoppelt hatte,
klang die Hauptstadtregion deutlich alarmierter als Tegnell, der die
Lage auf seinen täglichen Pressekonferenzen stets in
skandinavisch-kühler Manier beschreibt. In Stockholm klang das ganz
anders. «Vor fünf Tagen habe ich die Covid-19-Epidemie als einen
Sturm bezeichnet», sagte Stockholms Gesundheitsdirektor Björn
Eriksson. «Jetzt können wir sagen: Der Sturm ist da.»

Stabile Lage oder Notfall also? Mittlerweile gibt es in Stockholm
mehr als 60 Todesfälle. Und die Zeitung «Aftonbladet» will vor allem

eines von Tegnell und den Behörden wissen: «Ist der Corona-Sturm
jetzt über uns oder nicht?»