Gemeinsame Schulden in Europa? Nach dem Gipfel schäumt die Debatte Von Verena Schmitt-Roschmann und Annette Reuther, dpa

Corona-Bonds sind für Bundeskanzlerin Merkel und andere in der EU
inakzeptabel - darüber zerstritt sich der jüngste Videogipfel der
Staats- und Regierungschefs. Aber wer meint eigentlich was damit? Und
was steht politisch auf dem Spiel?

Brüssel/Rom (dpa) - Nach dem EU-Videogipfel nimmt der Streit über
gemeinsame Schulden in der Europäischen Union neue Fahrt auf. Die
Grünen forderten Bundeskanzlerin Angela Merkel am Freitag auf, den
Widerstand gegen Corona-Bonds aufzugeben. EU-Parlamentspräsident
David Sassoli kritisierte «Kurzsichtigkeit und Egoismus einiger
Regierungen» und verlangte ebenfalls ein gemeinsames
Schuldeninstrument. Auch in Italien schlägt das hohe Wellen: Das von
der Corona-Krise schwer gezeichnete Land fühlt sich im Stich
gelassen.

Die EU-Staats- und Regierungschefs hatten sich bei der Videoschalte
am Donnerstagabend trotz stundenlanger Diskussionen nicht auf
finanzpolitische Krisenhilfen einigen können. Nun soll die Eurogruppe
binnen zwei Wochen ein neues Modell ausarbeiten. Es geht dabei um
einen gemeinsamen Rettungsschirm für hoch verschuldete EU-Länder, die
in der Corona-Krise erneut massiv Schulden machen müssen und
irgendwann auf den Kapitalmärkten auf Schwierigkeiten stoßen könnten.


Frankreich, Italien, Spanien und andere Ländern fordern die
gemeinsame Aufnahme von Schulden, beißen damit aber bei Deutschland,
den Niederlanden und anderen auf Granit. Merkel bekräftigte nach dem
Videogipfel ihre Ablehnung von Corona-Bonds. Deutschland wolle lieber
den Eurorettungsschirm ESM in der Krise nutzen, der sei für sie «das
präferierte Instrument», sagte die Kanzlerin.

Die Debatte ist teils verwirrend, da auch Experten unterschiedliche
Dinge unter Corona-Bonds verstehen. Der Wirtschaftswissenschaftler
Guntram Wolff von der Brüsseler Denkfabrik Bruegel erklärte der
Deutschen Presse-Agentur die verschiedenen Modelle so:

DAS ESM-MODELL

Das von Merkel genannte und auch diese Woche in der Eurogruppe
besprochene Modell sieht vor, den in der Finanzkrise gegründeten
Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM zu nutzen. Dieser hat derzeit
rund 410 Milliarden Euro Freiraum für Darlehen und könnte sogenannte
vorsorgliche Kreditlinien für die Eurostaaten einrichten. Der
Fachbegriff ist ECCL. Sie sind im Prinzip nur die vorsorgliche Zusage
von Krediten für den Fall, dass sich ein Eurostaat nicht mehr am
Kapitalmarkt finanzieren könnte. Geld flösse erstmal nicht, sagte
Wolff. Gibt es eine solche ECCL, könnte die Europäische Zentralbank
verstärkt Anleihen des betroffenen Landes aufkaufen und es so
ebenfalls entlasten. Der Fachbegriff bei der Zentralbank heißt OMT
für Outright Monetary Transactions. Das OMT-Programm der EZB war 2012
zur Beruhigung der Kapitalmärkte in der Hochphase der
Euro-Schuldenkrise aufgelegt worden - wurde aber bislang nie genutzt.

CORONA-BONDS BEIM ESM

Daneben sieht Wolff die Option, den ESM für Corona-Bonds zu nutzen,
also über den Eurorettungsschirm gemeinsam für alle Eurostaaten
Schulden aufzunehmen. Wolff rechnet ein Beispiel vor: Der ESM gibt
eine Anleihe für alle heraus und nimmt so 1000 Milliarden Euro auf.
Das Geld wird unter allen Eurostaaten exakt nach dem Schlüssel ihrer
Anteile am ESM verteilt, ebenso wie die Zinskosten. Der Vorteil: Alle
Staaten hätten dieselben günstigen Finanzierungskonditionen. Wolff
spricht von einer «Vergemeinschaftung der Zinsen und des
Ausfallrisikos» und macht deutlich, dass er diese Variante für
richtig und machbar hält. «Europa wird gestärkt aus der Krise
herauskommen, wenn es gelingt, die Lasten gemeinsam zu tragen», sagte
der Experte.

CORONA-BONDS MIT UMVERTEILUNG

Anders sieht Wolff die Lage bei einer zweiten denkbaren Variante der
Corona-Bonds: Die Herausgabe von gemeinsamen Anleihen mit einem
Umverteilungsmechanismus, so dass die am schlimmsten getroffenen
Länder mehr von dem günstig finanzierten Geld abbekämen oder
geringere Kosten tragen müssten. Als Beispiel nennt er: Italien
bekäme 300 Milliarden Euro aus dem gemeinsamen Schuldentopf, müsste
aber nur Kosten für 150 Milliarden tragen. Für eine solche
Umverteilung gebe es keine politische Grundlage, sagte Wolff, denn
die EU sei nunmal kein Föderalstaat wie etwa die Bundesrepublik.

Dass immer das Stichwort Italien fällt, ist kein Zufall. Das Land
hatte schon vor der Corona-Krise kaum Wachstum und riesige
Schuldenberge von mehr als 130 Prozent der Wirtschaftsleistung -
obwohl nach den EU-Spielregeln eigentlich nur 60 Prozent toleriert
werden. Nun ist Italien zusammen mit Spanien das am schlimmsten von
der Pandemie betroffene EU-Land. Trotz schärfster
Ausgangsbeschränkungen sterben täglich Hunderte von Menschen an der
neuen Lungenkrankheit Covid-19.

Die Uneinigkeit in der EU trifft in Rom auf große Verbitterung. «Das
Wort Loyalität hat für uns großes Gewicht», sagte Außenminister L
uigi
di Maio am Freitag. «Wir erwarten, dass Europa seinen Teil dazu
beiträgt». Mit «schönen Worten» könne man nichts anfangen, mit
«alten
Instrumenten» ebenfalls nicht. Gemeint war wohl der ESM und gemeint
war auch Deutschland, das im EU-kritischen Italien als Feindbild
durchaus taugt.

Genau das heizt jetzt auch die politische Debatte in Brüssel ein:
Schafft es Europa, in der Krise zusammenzuhalten oder fällt es
auseinander? Der Grünen- Europapolitiker Sven Giegold sieht Merkel am
Zug: «Mit ihrem plumpen Nein zu Eurobonds tritt die Bundesregierung
die europäische Idee mit Füßen», sagte Giegold der dpa. «Gerade i
n
den vom Virus am schwersten betroffenen Mitgliedsländern müssen die
Menschen Europa jetzt spüren.»