Parlament in Corona-Not - Bleiben Berlins Abgeordnete beschlussfähig? Von Stefan Kruse und Andreas Heimann, dpa

Noch sind im Berliner Abgeordnetenhaus die allermeisten gesund. Doch
das Corona-Virus könnte das rasch ändern. Wie das Parlament dann noch
funktionieren soll, ist die große Frage.

Berlin (dpa/bb) - Die Sitzreihen im Berliner Abgeordnetenhaus waren
bei der jüngsten Sitzung weitgehend gelichtet. Nur gut die Hälfte der
Plätze war am Donnerstag besetzt. So soll es in der kommenden Woche
wieder sein, wenn sich die Parlamentarier erneut im Plenum treffen.
Noch ist das eine reine Schutzmaßnahme, auf die sich die Fraktionen
verständigt haben, um das Corona-Infektionsrisiko zu verringern. Nach
bisherigem Kenntnisstand haben sich erst je ein Abgeordneter von der
SPD und einer von der AfD infiziert. Aber längst gibt es die Sorge,
dass die Zahl der Parlamentarier steigen wird, die sich angesteckt
haben oder nach Kontakt mit einem Infizierten in Quarantäne müssen.
Dann könnte das Parlament irgendwann nicht mehr beschlussfähig sein.

Das wäre der Fall, wenn weniger als 81 der 160 Berliner Abgeordneten
nicht mehr mitstimmen können. Und dann? Dann könnte das Parlament
nicht mehr über neue Gesetzesvorhaben oder den Nachtragshaushalt
entscheiden - und wäre gelähmt. Das wollen alle Abgeordneten
verhindern, die Frage ist nur wie. SPD und CDU befürworten ein
Notparlament mit 27 Abgeordneten. Dafür wäre allerdings eine Änderung

der Landesverfassung mit einem recht tiefgehenden Eingriff nötig. Ein
breiter Konsens für die umstrittene Idee ist nicht in Sicht.

Besonders kompliziert ist das Problem, weil in Berlin im Gegensatz zu
vielen anderen Ländern wie Brandenburg in der Verfassung verankert
ist, dass «mehr als die Hälfte der Abgeordneten» im Plenum anwesend
sein muss. Und eine Verfassung ändert man nicht eben mal nebenbei.

«Ich habe großes Verständnis, wenn sich die Fraktionen bei dem Thema

schwer tun. Wir werden jeden Vorschlag unterstützen, der
verfassungskonform ist und mit der geringsten Eingriffstiefe die
Handlungsfähigkeit des Parlaments sichert», sagt der Parlamentarische
Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Torsten Schneider.

Heiko Melzer, sein Pendant bei der CDU-Fraktion, erklärt: «Die
CDU-Fraktion wird alle sinnvollen Maßnahmen unterstützen, die die
Funktionsfähigkeit des Parlaments sicherstellen, auch wenn dazu wie
für ein Notlageparlament eine Verfassungsänderung notwendig sein
sollte.»

Der Präsident des Abgeordnetenhauses, Ralf Wieland, könnte nun den
Weg zu einer Lösung weisen: Er weist auf das Vorgehen in Brandenburg
hin. Dort soll festgelegt werden, dass der Landtag notfalls mit einem
Viertel seiner Abgeordneten plus einem Parlamentarier weiterarbeiten
kann statt wie bisher mit gut der Hälfte, zeitlich begrenzt bis Juni.
«Ich halte diese Variante für bedenkenswert», sagt Wieland. «Das is
t
ein Vorschlag, den wir prüfen müssen.» Im Unterschied zu anderen
Ideen sei mit dieser Variante lediglich eine vergleichsweise kleine
Änderung der Landesverfassung verbunden. Der Ältestenrat des
Abgeordnetenhauses werde am Montag über das Thema beraten.

Die Grünen stehen einer Verfassungsänderung nach wie vor skeptisch
gegenüber. Fraktionsgeschäftsführer Daniel Wesener würde Änderung
en
der Geschäftsordnung vorziehen - «etwa zugunsten digitaler
Ausschusssitzungen und Anhörungen». Abstimmen aus dem Home Office?

Dafür macht sich auch und gerade die FDP stark, die bereits in der
vergangenen Woche ein «virtuelles Parlament» angeregt hat.
«Irrlichternden Diskussionen über die Einrichtung von Notparlamenten
muss eine entschiedene Absage erteilt werden», fordert Lars
Lindemann, kommissarischer FDP-Generalsekretär.

«Die Linksfraktion diskutiert diese Frage noch und hat sich bisher
für keine Variante entschieden», teilt ein Sprecher mit.
«Grundsätzlich streben wir eine Lösung an, die die Rechte der
Abgeordneten in einem solchen Fall so wenig wie möglich einschränkt.»


Die AfD-Fraktion verlangt, vor einer möglichen Verfassungsänderung
eine breite gesellschaftliche Diskussion darüber anzustoßen. «Wir
brauchen keine Notstandsgesetze wegen eines Virus», sagt
Fraktionschef Georg Pazderski. Er kritisiert, dass die übrigen
Parteien sich nicht längt Gedanken gemacht hätten, wie die
Legislative funktions- und arbeitsfähig bleiben könne.

Eine schnelle Einigung ist nicht in Sicht. Der Wissenschaftliche
Dienst des Abgeordnetenhauses prüft bereits verschiedene Vorschläge -
das Notparlament ist nur einer davon. Wie lange das dauert, ist
offen. «Die Parlamente müssen sehr genau darauf achten, dass sie sich
nicht selbst entmachten», mahnt der Demokratieforscher Wolfgang
Merkel. «Jetzt in der Krise ist die Stunde der Exekutive, die die
Grundrechte stark einschränkt», so der Professor vom
Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin. «Aber auch in
Krisenzeiten muss die Differenz zu Diktaturen sichtbar sein. Ein
Parlament darf nicht zur Durchwinkbude der Exekutive werden.»