Verfahren in Zeiten des Virus - was tun Gerichte in der Corona-Krise? Von Martin Oversohl, dpa

Die Corona-Krise trifft auch die Justiz. Teils kann nicht verhandelt
werden, weil Zeugen oder Schöffen fehlen, oft erschwert das
Homeoffice die Arbeit. Gerichtsverhandlungen werden abgesagt. Ein
Gesetz soll helfen. Justizminister Wolf ist nicht ganz zufrieden.

Stuttgart (dpa/lsw) - Desinfektionsfläschchen am Haupteingang,
Schöffen mit Mundschutz oder Flatterband zwischen Anklagebank und
Besucherreihen. Mal werden Prozesse verlegt, mal ganz abgesagt, an
einem Tag sind die Verteidiger in Quarantäne, an einem anderen
vielleicht die Zeugen. Gerichte in Baden-Württemberg müssen wegen der
Corona-Krise auf Notbetrieb schalten. Richter in Karlsruhe, Freiburg,
Stuttgart und Mannheim ringen mit Lösungen. Denn grundsätzlich liegt
es in ihrer Hand, ob sie trotz der Corona-Krise weiterhin verhandeln.
Die richterliche Unabhängigkeit ist unumstößlich.

Bei größeren Verfahren wie dem derzeit in Stuttgart laufenden Prozess
gegen mutmaßliche Schleuser und Scheinehen vor dem Landgericht kommen
mit Angeklagten, Schöffen, Verteidigern, Zeugen und Justizpersonal
schon Dutzende in einem Saal zusammen - ein Gesundheitsrisiko für
alle Anwesenden, die oft aus ganz Deutschland anreisen müssen. Auch
darf die Öffentlichkeit nur unter sehr strengen Voraussetzungen von
Verhandlungen ausgeschlossen werden. Der Schleuser-Prozess wird
deshalb nun im gesicherten Gerichtsgebäude der Justizvollzugsanstalt
Stammheim verhandelt und nicht in der City.

Fast überall gilt: Verhandelt wird, was nötig und was möglich ist.
Nicht überall wird dies gleich bewertet, das liegt allerdings auch an
den Verfahrensvorschriften: Das Bundesverfassungsgericht setzt bis
Ende April keine großen Verhandlungen und Urteilsverkündungen mehr
an. Ausgenommen sind unaufschiebbare Angelegenheiten, wie das höchste
deutsche Gericht in Karlsruhe mitteilt. Die Arbeit in den Kammern sei
aber sichergestellt, weil die Richterinnen und Richter auch von zu
Hause aus arbeiten könnten. «Unser primäres Ziel ist es, die
persönlichen Kontakte zu verringern», sagt eine Sprecherin des
Bundesverfassungsgerichts stellvertretend für zahlreiche andere
Gerichtsvertreter. Auch am Bundesgerichtshof und anderen Gerichten
fallen Verhandlungen aus.

«Alle aufschiebbaren Verhandlungen werden vorerst nicht stattfinden»,
sagt auch die Präsidentin des Stuttgarter Oberlandesgerichts,
Cornelia Horz. Dies gelte vor allem für Zivilverfahren und
Familiensachen. Die meisten Gerichte im Land haben aber mit Hilfe
eines Notfallplans sichergestellt, dass bearbeitet werden kann, was
bearbeitet werden muss, darunter Haft- und Eilsachen sowie die Arbeit
von Ermittlungsrichtern.

Beim Karlsruher Landgericht werden Haftsachen im Strafrecht wie der
laufende Prozess gegen zwei Männer nach einem vorgetäuschten Überfall

auf einen Geldtransporter auch unter den erschwerten Umständen
weitergeführt. Alle Verhandlungstermine bei Zivilverfahren wurden
dagegen «sämtlich abgesagt», sagt eine Gerichtssprecherin.

Das Virus hat auch den derzeit bekanntesten Prozess des Freiburger
Landgerichts in die Warteschleife geschoben: Frühestens Mitte Mai
wird wieder verhandelt im Verfahren um die Gruppenvergewaltigung
einer 18-Jährigen vor einer Disco in Freiburg. Organisiert würden
lediglich Kurztermine, um rechtliche Fristen einzuhalten.

Und selbst dies könnte schon bald nicht mehr notwendig sein. Denn der
Bundestag will am Freitag einen Gesetzentwurf des Justizministeriums
verabschieden, der Gerichten wegen der Corona-Krise für laufende
Strafprozesse längere Unterbrechungen erlaubt. Vorgesehen ist eine
Pause für bis zu drei Monate und zehn Tage, um zu verhindern, dass
Hauptverhandlungen platzen und von Neuem beginnen müssen. Bislang
dürfen Hauptverhandlungen laut Strafprozessordnung im Strafverfahren
nur für drei Wochen unterbrochen werden. Bei besonders umfangreichen
Verfahren, die länger als zehn Verhandlungstage gedauert haben, ist
eine Unterbrechung bis zu einem Monat möglich. Verrinnt die Frist,
muss der Prozess von vorne beginnen.

Das Landgericht in Stuttgart beobachte das Gesetzgebungsverfahren mit
sehr großem Interesse, sagte ein Sprecher. Eine entsprechende
Unterbrechungsmöglichkeit verschaffe wertvolle Luft, um ein mögliches
Platzen von Prozessen zu verhindern. Nach Ansicht von OLG-Präsidentin
Horz kann ein solches Gesetz entlasten und für Planungssicherheit
sorgen. Landesjustizminister Guido Wolf geht das aber nicht weit
genug: Eine Verlängerung für normale Strafprozesse um zwei Monate und
eine Pause von somit insgesamt maximal drei Monaten und zehn Tagen
sei eine «absolute Untergrenze», sagt der CDU-Minister. «Ich hätte

mir eine Verlängerung der aktuell möglichen Fristen um zusätzliche
drei statt nur um zwei Monate vorstellen können», sagt er.

Auch die Anwälte sind noch nicht zufrieden: «Die neue Regelung
bezieht sich nur auf das Strafprozessrecht, sie lässt aber Zivil-,
Arbeits- und Verwaltungsprozessrecht außer Acht», sagt Peter Kothe
Präsident des Anwaltsverbands Baden-Württemberg. Das sei aber ein
Nachteil, weil es auch in diesen Verfahren Fristen gibt, die weiter
gelten und die Anwälte und deren Mandanten unter Druck setzten. «Bei
Kündigungen muss eine Kündigungsschutzklage zum Beispiel auch
weiterhin innerhalb von drei Wochen zugestellt werden.»