Bericht aus dem Elsass: Patienten über 80 werden nicht mehr beatmet Von Nico Pointner und Julia Naue, dpa

Das Elsass gilt als Corona-Zentrum in Frankreich. Die Lage dort ist
schlimm. Unweit von Deutschland werden alte Corona-Kranke nun nicht
länger beatmet. Wird das auch in Baden-Württemberg bald so sein?

Straßburg/Stuttgart (dpa) - Katastrophenmediziner berichten
angesichts der Corona-Pandemie über dramatische Zustände aus dem
Elsass, die aus ihrer Sicht bald auch in Deutschland drohen könnten.
Demnach arbeiten Mediziner an der Universitätsklinik Straßburg weiter
mit Corona-Patienten, auch wenn sie selbst infiziert sind. Über
80-Jährige werden nicht länger beatmet. Stattdessen erfolge
«Sterbebegleitung mit Opiaten und Schlafmitteln», schreiben die
Mitarbeiter des Deutschen Instituts für Katastrophenmedizin in
Tübingen in einem Bericht an die baden-württembergische
Landesregierung, der der Deutschen Presse-Agentur vorliegt. Mehrere
Medien haben darüber berichtet.

Die Universitätsklinik Straßburg bestreitet, dass das Alter das
einzige Kriterium für Intensivmaßnahmen sei. Die an der
Universitätsklinik geltenden Praktiken entsprächen den Empfehlungen
der gängigen Fachgesellschaften, hieß es in einer Mitteilung. Es
würden außerdem neue Kapazitäten im Bereich der Intensivmedizin
bereitgestellt, es habe bisher keine Überlastung gegeben.

Das Elsass gilt als Frankreichs Zentrum der Krise. Die deutschen
Katastrophenmediziner besuchten die Universitätsklinik Straßburg am
Montag - und schlagen angesichts der Zustände Alarm. Sie berichten in
dem Papier von einer «greifbaren Gefahr» durch das Virus. Unter der
Annahme, dass sich die Entwicklung im Elsass bald in Deutschland
einstellen werde, sei eine optimale Vorbereitung von «allerhöchster
Dringlichkeit». Die Gefahr durch das Coronavirus mache «weitere
konsequente Maßnahmen der Landesregierungen, der Krankenhäuser und
der Rettungsdienste in Deutschland» unabdingbar.

Nadelöhr seien die zu beatmenden Patienten, heißt es in dem Papier.
Seit dem Wochenende würden Patienten, die älter sind als 80 Jahre, an
der Straßburger Klinik nicht mehr beatmet. So werde auch verfahren
mit Patienten in Pflegeheimen in jenem Alter, die beatmet werden
müssten. Sie sollen durch den Rettungsdienst eine «schnelle
Sterbebegleitung» erhalten. Die Ethikkommission gebe diese
Vorgehensweise vor.

Die Deutsche Stiftung Patientenschutz kritisiert das französische
Vorgehen nach Alter scharf. Lebensalter oder Herkunft dürften für die
medizinische Hilfe keine Rolle spielen, sagte Vorstand Eugen Brysch.
«Vielmehr stehen der Patientenwille und die medizinische Prognose im
Mittelpunkt.» Für die Patienten sei wichtig, ihren Willen rechtzeitig
zu bekunden, etwa mit einer Patientenverfügung. Deutsche Intensiv-
und Notfallmediziner hätten am Donnerstag klinisch-ethische
Empfehlungen zur Versorgung von Intensivpatienten vorgelegt.
Kriterium ist demnach die klinische Erfolgsaussicht der Behandlung -
nicht das Alter. Mit der Handreichung sollten Zustände wie in
Frankreich vermieden werden, sagt Brysch.

Die Straßburger Klinik nahm am Montag dem Bericht zufolge stündlich
einen Patienten auf, der beatmet werden musste. 90 Beatmungsbetten
standen zu dem Zeitpunkt zur Verfügung; die Klinik baut ihre
Kapazitäten derzeit aus. Patienten zwischen 19 und 80 Jahren werden
dort beatmet, wobei nur 3 der 90 Patienten jünger als 50 waren und
keine Vorerkrankungen hatten. Am Universitätsklinikum wird pro Tag
nur noch eine lebenswichtige Bypass-Operation durchgeführt, es gibt
keine Tumor-Chirurgie mehr und keine ambulanten Operationen. Alle
Patienten, die gehen können und bei denen es gesundheitlich
vertretbar ist, wurden entlassen.

Das Robert Koch-Institut (RKI) hatte die an Deutschland grenzenden
ostfranzösischen Gebiete Elsass und Lothringen bereits vor rund zwei
Wochen als Coronavirus-Risikogebiet eingestuft. Auch die Region
Champagne-Ardenne, die eine Grenze mit Belgien teilt, gilt als
Risikogebiet. Die drei Gebiete bilden zusammen die Region Grand Est.
Sie grenzt an Baden-Württemberg, an das Saarland und an
Rheinland-Pfalz. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron kündigte bei
einem Besuch einer neuen mobilen Armeeklinik am Mittwochabend im
elsässischen Mülhausen (Mulhouse) eine Militäroperation zur
Unterstützung der Bevölkerung an.

Nach Angaben der regionalen Gesundheitsbehörde waren bis Mittwoch
3068 Menschen mit einer Sars-CoV-2-Infektion in Krankenhäusern
untergebracht. Fast 651 davon waren auf Intensivstationen. Seit
Beginn der Pandemie wurden in der gesamten Region mehr als 500
Todesfälle verzeichnet. Ein Sonderzug mit 20 Corona-Patienten an Bord
verließ am Donnerstag Straßburg Richtung Westfrankreich, um die
Intensivstationen in der betroffenen Region zu entlasten.

Das deutsche Gesundheitswesen sei weiterhin gut aufgestellt, hieß es
am Donnerstag im baden-württembergischen Innenministerium. Aber man
nehme die Lage im Elsass als «mahnendes Beispiel am Horizont». Man
wolle die Arbeit gegen das Virus noch weiter intensivieren.

Intensivmedizinern und Notärzten komme in der Krise eine
Schlüsselrolle zu, berichten die Katastrophenmediziner weiter. «Der
Ausfall jeder einzelnen Person in diesen Bereichen wird am Ende
Menschen das Leben kosten.» Deshalb müsse für diese Fachkräfte eine

Sonderrolle gelten. Frankreich gestatte auch infizierten Ärzten die
Arbeit. «Einzig bei bestätigter Infektion und eigenen Symptomen wird
die Arbeit wenige Tage unterbrochen», schreiben die Mediziner über
den französischen Rettungsdienst.

Die Mediziner warnen wegen der Corona-Krise aber auch vor
«medizinischen Kollateralschäden». Die Menschen hätten trotz
Corona-Krise Anspruch auf eine adäquate Behandlung etwa wegen
Herzinfarkten oder Unfällen. «Wir dürfen am Ende nicht all diese
Patienten verlieren, um dafür alle Covid-19-Patienten gerettet zu
haben.»