In Zeiten von Corona krankt auch Israels Demokratie Von Stefanie Järkel, dpa

Anfang März hat Israel zum dritten Mal innerhalb eines Jahres ein
neues Parlament gewählt. Doch die Corona-Krise verschärft auch die
Sorge um die demokratischen Grundsätze im Land. Regierungspolitiker
stellen das Höchste Gericht in Frage.

Tel Aviv (dpa) - Der israelische Historiker und Autor Yuval Noah
Harari ist in Deutschland vor allem für seine durchdachten
Erklärungen der Weltgeschichte bekannt. Sein Buch «Eine kurze
Geschichte der Menschheit» hielt sich wochenlang in den
Bestsellerlisten. Vergangene Woche allerdings platzte ihm
offensichtlich virtuell der Kragen: «Die erste Coronavirus-Diktatur»,

schimpfte er auf Twitter. «In Israel werden Notdekrete von jemandem
erlassen, der kein Mandat vom Volk hat.» Ministerpräsident Benjamin
Netanjahu habe die Wahlen verloren.

Israel befindet sich seit Tagen in einer politischen Extremsituation
- verschärft durch die weltweite Corona-Krise. Bereits Ende 2018
zerbrach die rechts-religiöse Regierung unter Netanjahu. Seither hat
Israel drei Parlamentswahlen erlebt, die vorerst letzte am 2. März.
Doch die politische Pattsituation zwischen dem Parteienblock um
Netanjahu und dem Mitte-Links-Lager um seinen Herausforderer Benny
Gantz (Blau-Weiß) hielt an.

Amir Fuchs vom Israelischen Demokratie-Institut sagte: «Es ist eine
Verfassungskrise, weil wir seit eineinhalb Jahren keine Koalition
mehr haben.» Am Mittwoch trat Parlamentspräsident Juli Edelstein von
der Regierungspartei Likud nach massivem Druck der Opposition zurück
- und verkündete die Schließung der Knesset bis Montag. Dies brachte
nach Medienberichten Tausende Menschen auf die Straße, sie
protestierten in ihren Autos vor der Knesset.

Denn Edelstein umging mit seinem Rücktritt eine Entscheidung des
Höchsten Gerichts, die von der Opposition geforderte Neuwahl des
Parlamentspräsidenten spätestens am Mittwoch stattfinden zu lassen.
Er sprach von einer «groben und arroganten Einmischung» des Gerichts
in parlamentarische Angelegenheiten - nachdem er sich zuvor geweigert
hatte, die Abstimmung stattfinden zu lassen.

Fuchs sagte zu dem Vorwurf der Einmischung des Gerichts: «Nein, das
ist das genaue Gegenteil. Wenn es (eine Mehrheit von) 61 Menschen
gibt, die abstimmen wollen, dann hilft das Gericht der Knesset, es
kämpft nicht gegen das Parlament.» Edelstein habe seine Autorität i
m
Sinne des Likud oder in seinem Sinne missbraucht.

Überraschend wurde Gantz am Donnerstag zum neuen
Parlamentspräsidenten gewählt - mit Unterstützung des Likud. Sein
eigenes Bündnis zerbrach an dem Kurswechsel. Nach Medienberichten
soll die Wahl von Gantz den Weg frei machen für eine große Koalition
mit Teilen von Blau-Weiß.

Fuchs sagte zu Edelsteins Entscheidung: «Ich sehe es als großes
Problem, dass sie (die Mitglieder der Übergangsregierung) versuchen,
die Knesset zu schließen. Wenn sie die Mehrheit hätten, würden sie
das nicht tun.». Bisher hält Blau-Weiß mit Unterstützung der andere
n
Oppositionsparteien eine hauchdünne Mehrheit von 61 Abgeordneten im
Parlament in Jerusalem.

Die Oppositionsparteien hatten zudem angekündigt, ein Gesetz
einbringen zu wollen, wonach künftig ein angeklagter
Parlamentsabgeordneter nicht mit der Bildung einer Regierung
beauftragt werden kann. Sollte das Gesetz durchgehen, könnte
Netanjahu im Falle einer erneuten Wahl wegen seiner
Korruptionsanklage nicht mehr Ministerpräsident werden - ein
Horrorszenario für die Likud-geführte Übergangsregierung.

Bereits in der vergangenen Woche hatte Edelstein vorübergehend das
Parlament geschlossen und so die Besetzung von parlamentarischen
Ausschüssen bis Montag verzögert. Gantz warf Edelstein vor, auf
Anweisung seines Parteifreundes Netanjahu zu handeln. Blau-Weiß
kritisierte zudem, Israel werde in dieser Krisenzeit von einer
Übergangsregierung ohne parlamentarische und rechtliche Kontrolle
regiert, die die Corona-Krise für ihre Zwecke nutze.

Fuchs sagte: «Besonders in Bezug auf die Knesset benutzen sie die
Corona-Krise, um das Funktionieren des Parlaments zu verzögern.» Auch
nutze Netanjahu die fast allabendlichen Auftritte zur besten
Sendezeit für Eigenwerbung. Allerdings gehe er nicht davon aus, dass
die Vorgaben für die Bevölkerung, wie die Ausgangsbeschränkungen, aus

politischen Erwägungen heraus getroffen würden, sagte Fuchs. «Ich
denke, sie versuchen, da ihr Bestes zu tun.» Auch dass der für Mitte
März geplante Auftakt des Korruptionsverfahrens gegen Netanjahu wegen
der Corona-Krise verschoben wurde, sei nachvollziehbar.

Fuchs befürchtete während der aktuellen Ausnahmesituation allerdings
keine Zerstörung der israelischen Demokratie. «Ich glaube nicht, dass
wir eine Diktatur haben werden wegen der Corona-Krise», sagte der
Wissenschaftler und widerspricht damit Autor Harari. «Aber wir müssen
auf der Hut sein, denn in Notsituationen wird die Demokratie
untergraben.»