Corona-Studie: Wie Hunderttausende Fälle verhindert werden könnten

Schulschließungen, Home Office und Quarantäne können die Ausbreitung

des Coronavirus stark bremsen, so eine Studie. Am besten
funktionieren die Regelungen in Kombination.

London/Singapur (dpa) - Flächendeckende Schulschließungen, Arbeit im
Home Office für die Hälfte der Bevölkerung und strenge Quarantäne f
ür
Erkrankte und deren Familien: Mit diesen drei Maßnahmen zusammen über
den Zeitraum von zwei Wochen könnte man laut einer Simulationsstudie
aus Singapur das neuartige Coronavirus zurückdrängen. Ein größerer

Ausbruch könne so vorerst vermieden werden, zumindest in Singapur,
schreiben die Forscher im Fachmagazin «The Lancet Infectious
Diseases».

Für den südostasiatischen Stadtstaat heißt das konkret: Statt - wie
im schlimmsten der modellierten Szenarien - 1,2 Millionen Menschen,
fast ein Drittel der Bevölkerung, könnten sich bei einer angenommenen
hohen Infektionsrate binnen 80 Tagen immer noch etwa eine
Viertelmillion Menschen mit dem Erreger Sars-CoV-2 anstecken.
Immerhin entspreche dies aber einer Senkung um fast 80 Prozent.

Das Team um Alex Cook von der National University of Singapore nutzte
für die Berechnungen ein Simulationsprogramm, das eigentlich Modelle
für die Ausbreitung von Grippeviren bereitstellt. 100 Fälle der
Infektion in der Bevölkerung wurden vorausgesetzt, berechnet wurde
die Zahl der Fälle 80 Tage später. Dabei spielten die Epidemiologen
vier Szenarien durch, die jeweils für zwei Wochen gelten.

Im ersten Szenario werden lediglich Erkrankte und ihre Familien in
Quarantäne geschickt. Im zweiten Szenario werden zudem alle Schulen
geschlossen. Im dritten Szenario bleiben Schulen geöffnet, aber die
Hälfte der Berufstätigen arbeitet vom Home Office aus - dazu kommt
die Quarantäne für Infizierte und deren Familien. Im vierten Szenario
werden - neben der Quarantäne-Regelung - alle Schulen geschlossen,
und zugleich wird Arbeit im Home Office der Hälfte der Bevölkerung
ermöglicht - ähnlich wie in Deutschland. Alle diese Maßnahmen werden

14 Tage lang umgesetzt.

Ohne diese Regelungen würde der Studie zufolge in Singapur innerhalb
von 80 Tagen etwa ein Drittel der Bevölkerung erkranken - sofern die
Übertragungsrate des Virus besonders hoch ist. Die Übertragungsrate -
im Fachjargon Basisreproduktionszahl - ist die Zahl der Ansteckungen,
die von einem einzelnen Infizierten ausgehen. Wie stark sich
Sars-CoV-2 überträgt, wurde bislang noch nicht genau festgestellt.
Das Robert-Koch-Institut schreibt, dass verschiedene Studien Werte
zwischen 2,4 und 3,3 angeben. Die Autoren aus Singapur rechneten
deshalb mit drei verschiedenen Werten: gering (1,5), mäßig (2) und
hoch (2,5).

Bei geringer Übertragung und einer Kombination aller drei Maßnahmen -
Quarantäne, Schulschließungen und Home Office-Regelungen - sei es
möglich, dass die Zahl der Infizierten nach 80 Tagen lediglich auf
1800 steigen werde, so die Wissenschaftler.

Bei der höchsten Übertragungsrate kann die Kombination der drei
Maßnahmen immer noch erreichen, die Zahl der Infizierten um etwa 80
Prozent zu senken, so dass statt 1,2 Millionen nur 258 000 Infizierte
in Kauf genommen werden müssten. Würde man in diesem Fall allerdings
nur Quarantäne für Betroffene anordnen und auf weitere Eingriffe ins
Alltagsleben verzichten, so wäre noch mit mehr als einer halben
Million Infizierten zu rechnen.

Für Singapur ist die Hinterfragung der verschiedenen Szenarien von
besonderer Bedeutung, denn in dem Staat sind bislang weder Schulen
geschlossen, noch gab es - zumindest bis Anfang der Woche -
landesweit einheitliche Regelungen für Arbeit im Home Office.
Generell wird in Singapur sehr viel getestet, Infizierte werden
isoliert, zudem sind die Menschen - auch mit Hilfe sozialer Medien
und Smartphones - aufgerufen, Abstand zueinander zu halten. Nach
Angaben der Johns Hopkins University gab es in dem Stadtstaat bis
Mittwoch rund 560 bestätigte Fälle.

Die Aussagekraft der Studie werde allerdings durch einige Faktoren
begrenzt, räumen die Wissenschaftler ein. So sei nicht
berücksichtigt, wie Infizierte, die ins Land einreisen, das
Infektionsgeschehen beeinflussen. Außerdem seien viele Eigenschaften
des Erregers Sars-CoV-2 noch unbekannt. Zudem mache es einen
entscheidenden Unterschied, wie viele Menschen asymptomatisch
infiziert sind - also keine Krankheitszeichen zeigen. Sie könnten das
Virus verstärkt weitergeben.

Die Wissenschaftler rechneten zunächst mit 7,5 Prozent asymptomatisch
Infizierten. Als sie den Anteil dieser symptomlosen Fälle auf 50
Prozent erhöhten, ließ sich die Epidemie auch bei Kombination aller
Maßnahmen nicht mehr ohne Weiteres unter Kontrolle bringen. Selbst
bei der geringsten Übertragungsrate von nur 1,5 stieg die Zahl der
Infizierten trotz Einsatz aller drei Maßnahmen zur Kontaktreduktion
nach 80 Tagen auf fast 280 000.

Zum Grund für die kurze, nur zweiwöchige Dauer der Maßnahmen erklär
te
Cook der Deutschen Presse-Agentur, die Studie habe die Auswirkungen
der Maßnahmen zu einem frühen Zeitpunkt der Epidemie untersucht. Sei
eine Epidemie schon in vollem Schwung, würden zweiwöchige Maßnahmen
den Verlauf zwar immer noch bremsen. Aber: «Das Szenario, das wir
jetzt sehen, würde eine viel längere Schulschließung erfordern»,
betont Cook.

Generell sieht das Team noch reichlich Klärungsbedarf: «Die optimalen
Zeitpunkte für die Umsetzung jeder Maßnahme und ihre Dauer, um eine
langfristige Kontrolle der Epidemie zu erreichen, sollten erforscht
werden.» Grundsätzlich, so betont Cook, könne die Studie aber
Politikern auch in anderen Staaten Daten liefern, um Maßnahmen zum
Eindämmen der Pandemie einzuleiten.

In einem begleitenden Kommentar beschreiben die Epidemiologen Joseph
Lewnard und Nathan Lo von der University of California in Berkeley
und San Francisco die wissenschaftliche Grundlage für Maßnahmen, die
zu mehr sozialer Distanz führen und die Epidemie so eindämmen, als
«belastbar». Gleichzeitig fordern sie, ethische Aspekte nicht außer
Acht zu lassen: Sie empfehlen eine Politik, die sich verstärkt um
ohnehin wirtschaftlich benachteiligte Gruppen kümmert. Dazu zählen
Menschen, denen Einkommens- oder Jobverluste drohen, aber auch etwa
Obdachlose, Häftlinge und Menschen, die sich illegal in einem Land
aufhalten.