Nguyen turnt am Barren im Garten: Olympia-Verlegung «kein Nachteil» Von Ulli Brünger, dpa

Spitzenturner Nguyen zählt zu den wenigen Profiteuren der
Olympia-Verschiebung. Nach seiner Schulterverletzung mit Operation
während der verpassten Heim-WM 2019 gewinnt er wertvolle Zeit. Sein
Traum von seinen vierten Spielen in Tokio ist wieder realistischer.

Stuttgart (dpa) - Langsam hebt Marcel Nguyen seinen Körper aus dem
Grätschwinkelstütz in den Handstand. Während die Ruder-Asse daheim
ihre Ergometer beackern, freut sich der deutsche Spitzenturner über
seinen kleinen Übungsbarren im eigenen Garten. Not macht die Sportler
in Corona-Zeiten erfinderisch. Eigentlich wollte eine Turngerätefirma
dem 32-Jährigen aus Stuttgart einen richtigen Wettkampfbarren ins
Haus liefern. 9000 Euro inklusive Matten sollte der Service kosten,
überstieg aber die finanziellen Möglichkeiten des Olympia-Kandidaten.

Gleichwohl blickt der zweifache Silbermedaillen-Gewinner von 2012 in
London wieder zuversichtlicher in die Zukunft. Die Verschiebung der
Olympischen Spiele ins Jahr 2021 findet Nguyen richtig. «Ich bin sehr
froh, dass die Entscheidung nun gefallen ist», sagt er der Deutschen
Presse-Agentur. Weltweit sei den Athleten «der Druck genommen», sich
inmitten der Pandemie auf ihr Highlight unter teils absurden
Trainingsbedingungen vorbereiten zu müssen, betonte der dreimalige
Europameister. Ihm selbst kommt der Olympia-Aufschub sogar sehr
gelegen: «Für mich persönlich ist er sicher kein Nachteil. Ich habe
wertvolle Zeit geschenkt bekommen.»

Kurz vor der WM 2019 in seiner Wahlheimat Stuttgart hatte sich Nguyen
schwer an der Schulter verletzt. Während die Riege um seinen Kumpel
Andy Toba bei der WM um die Olympia-Qualifikation kämpfte, ließ er
sich Anfang Oktober operieren. Um mit Blick auf seine vierte
Olympia-Teilnahme vom 24. Juli bis 9. August keine Sekunde zu
verlieren. Gleichwohl war das Vorhaben auf Kante genäht. Wäre es beim
ursprünglichen Tokio-Termin geblieben, wäre dem Turn-Ass wegen der
Corona-Pandemie wohl die Zeit endgültig davongelaufen. «Für mich
zählte jeder Tag.»

Nicht zuletzt deshalb atmete er auf, als die Nachricht von der
Verlegung kam. «Das IOC hat lange benötigt. Es war ja leider schon
länger absehbar, dass die Spiele in diesem Sommer mit Blick auf die
Gesundheit aller Beteiligten keinen Sinn machen.» Nach dem Eingriff
an der Schulter bei dem Spezialisten, der auch Fabian Hambüchen einst
operierte, stand für Nguyen zunächst eine achtwöchige Reha an. Mut
machte ihm sein langjähriger Weggefährte, der vor Rio 2016 eine
ähnliche Verletzung erlitten hatte und dann Reck-Olympiasieger wurde.
«Es wird eine Punktlandung, aber Marcel schafft das», so Hambüchen.

Vor knapp drei Wochen begann Nguyen wieder mit dem Gerätetraining,
war «sehr gut im Plan», bis vor zehn Tagen das Turnforum am
Stützpunkt in Stuttgart, seine Trainingshalle, auf Behördenanordnung
geschlossen wurde. Da befiel ihn mit Blick auf Olympia leichte Panik.
«Wie soll ich das schaffen?», fragte er sich. Turnen sei «da extrem.

Wir brauchen den Barren, das Reck. Ein, zwei Wochen geht es ohne
Geräte. Danach benötigt man Monate, um den Trainingsausfall zu
kompensieren. Das ist, als müsse ein Schwimmer ohne Wasser üben.»

Nun ist sein Olympia-Traum wieder realistischer. Insofern zählt er zu
den wenigen Gewinnern des Aufschubs. Nächstes Jahr wird er 34. «Für
einen Turner bin ich im fortgeschrittenen Alter, und es werden wohl
meine letzten Spiele. Aber auf dieses eine Jahr kommt es nun auch
nicht mehr an. Das werde ich schaffen, wenn mein Körper mitmacht und
ich mich für das Team qualifiziere», betont Nguyen.

Die finanziellen Folgen von Corona spürt er auch schon. «Ein
wichtiger Sponsor kann den Vertrag nicht verlängern, er hat kein
Budget mehr.» Dennoch verfolgt der Sportsoldat nun positiv sein Ziel:
«Ich kann mich jetzt in Ruhe auf Olympia vorbereiten, ohne diesen
Stress, mich auf Biegen und Brechen auf mein altes Niveau zu
bringen.» Lachend fügt Nguyen an: «Und das sinnlose Training im
Garten ist erstmal vorbei.»