Mathe per Videochat - Schüler lernen jetzt online zu Hause Von Stella Venohr, dpa

Matheunterricht über eine Gamer-Plattform oder ein digitales
Lesetagebuch - die NRW-Schulen sind wegen des Coronavirus geschlossen
und suchen neue Lösungen zum Lernen. Doch der Unterricht zuhause kann
auch Ungleichheit fördern, sagen Kritiker.

Düsseldorf (dpa/lnw) - Bruchrechnung per Video oder ein digitales
Lesetagebuch zur Schullektüre - zahlreiche Schüler in
Nordrhein-Westfalen lernen in der Corona-Krise wegen geschlossener
Schulen seit dem vergangenen Montag (16.3.) zu Hause mit Aufgaben
ihrer Lehrer über das Internet oder Handy-Apps. Das klappt nach
ersten Rückmeldungen gar nicht schlecht, aber es gibt auch Kritik: Es
hapere teils an der technischen Ausstattung und das Lernen zu Hause
sorge für ungleiche Chancen.

Im Düsseldorfer Norden nutzt die Mathe-Lehrerin eines Gymnasiums für
ihre Aufgaben zum Beispiel die Gamer-Plattform Discord, auf der die
Kinder sonst Spiele wie Fortnite spielen. Es gibt einen Text- und
einen Sprachkanal. Die Lehrerin verteilt die Aufgaben und steht zu
bestimmten Zeiten für Fragen bereit. Das Thema für die neunte Klasse
passt zur Corona-Krise mit ihren hochschießenden Infiziertenzahlen:
Die Schüler müssen Potenzrechnungen büffeln.

«Der Unterricht geht weiter - aber zu Hause», verkündet das Essener
Helmholtz-Gymnasium über seine Homepage. Zu Beginn der vergangenen
Woche hätten für die Klassen 5 bis 9 alle Eltern Links zu der
Lernplattform «Padlet» bekommen, die auch Antworten der Schüler
ermöglicht. «Ich finde es prima, dass wir in so kurzer Zeit ein
Mittel gefunden haben, mit dem wir die Schüler nicht nur mir Aufgaben
versorgen, sondern sogar mit Ihnen kommunizieren können», sagt eine
Deutsch- und Lateinlehrerin der Schule, Jennifer Küppers. So bekommen
die Siebtklässler den Auftrag, zu ihrer Schullektüre - Otfried
Preußlers «Krabat» - ein Portfolio mit 17 Teilpunkten zu verfassen -

Abgabe nach den Osterferien.

An der Bochumer Matthias-Claudius-Gesamtschule haben die Schüler
schon am vergangenen Freitag Arbeitsmaterial mitbekommen, vor allem
in den Hauptfächern Deutsch, Englisch und Mathematik. «Erledigte
Aufgaben können eingescannt und den Lehrern geschickt werden, diese
geben eine Rückmeldung», sagt Dirk Budzinski, Abteilungsleiter für
die Klassen 8-10. Zu vielen Themen gebe es Lernvideos, Lehrerinnen
und Lehrer könnten per Mail und Telefon für Beratungen erreicht
werden. Die Eltern bekämen Links zugeschickt, über die sie auf
Material und Lösungen zugreifen könnten. «Sie sollen sich aber nicht

dazu verpflichtet fühlen, zu Hause als Hilfslehrer tätig zu sein.»

Die Mathelehrerin einer Grundschule in Essen arbeitet mit einem
Wochenplan: «Für meine zweite Klasse habe ich Aufgaben
zusammengestellt, an denen die Schülerinnen und Schüler jeden Tag
zwei Mal 30 Minuten arbeiten sollen. Wer eher fertig ist, soll
Zusatzaufgaben machen.» Wer für die Grundaufgaben länger brauche,
brauche dann eben länger. Kontrolliert werde nicht. Die Aufgaben hat
sie den Eltern per Mail geschickt.

Und die Schüler? Die Begeisterung am Frühstückstisch hält sich in
Grenzen. «Es ist halt schwer, sich selbst alles beizubringen. Das
nervt. Man kann die Lehrer nicht direkt fragen», sagt eine
15-Jährige. Sie hat von ihren Lehrerinnen in jedem Fach Aufgaben
bekommen. In Physik soll sie in einem Handout ausführlich
beschreiben, wie ein selbst gewählter Kraftwerkstyp funktioniert.
Abgabe vor den Osterferien. Referat nach den Osterferien. Für eine
Neunjährige hat die Mama am Morgen per Mail ein selbst aufgenommenes
Video bekommen, in dem die Lehrerin die schriftliche Division
erklärt. Dennoch würde auch sie lieber zur Schule gehen. Was vermisst
Du am meisten? «Meine Freunde.»

Das digitale Lernen bietet nicht nur Chancen, sondern stellt die
Beteiligten auch vor Herausforderungen. Der Schulleiter einer
Brennpunktschule in Ostwestfalen berichtet von Schwierigkeiten. «Das
Hauptproblem ist, dass die Kollegen vom Land und dem Schulträger
nicht mit Dienstcomputern ausgestattet worden sind», so der
Schulleiter. «Es wird versucht, die fehlende Digitalisierung jetzt in
wenigen Tagen einzuprügeln.»

Ein weiteres Problem sieht der Schulleiter bei den Ressourcen der
unterschiedlichen Schüler. «Ich habe Familien, da sitzen jetzt sechs
Kinder in einer 3-Zimmer-Wohnung. Da ist keine Gelegenheit, in einer
geschützten Lernatmosphäre zu arbeiten», sagt der Schulleiter. Auch
die Unterstützung durch die Eltern sei nicht immer gegeben. So
sprechen einigen Erziehungsberechtigten wenig Deutsch oder hätten
nicht den Bildungsstand, den Kindern bei den Aufgaben zu helfen. Es
sei nicht im Sinne der Chancengleichheit, wenn die Aufgaben von
Zuhause in die Benotung der Schüler einfließen, wie es an einigen
Schulen gemacht werde.

Sophie Halley von der Landesschüler- und Schülerinnenvertretung (LSV)
NRW muss beispielsweise in den kommenden Tagen einen Aufsatz für den
Geschichtsunterricht schreiben, der als Ersatz für einen Test benotet
wird. «Soziale Ungleichheit, die eh schon da ist, wird dadurch
reproduziert», kritisiert die 18-Jährige. «Für die Schüler, die d
en
Rückhalt im Elternhaus nicht haben, werden diese Wochen Horror durch
Leistungsdruck, schlechte Noten und fehlende Unterstützung.»

Das Schulministerium NRW betont, dass Chancengerechtigkeit trotz der
gegenwärtigen Situation gegeben sein müsse. Durch die Aussetzung des
Unterrichts dürfe keinem Schüler und keiner Schülerin ein Nachteil
entstehen, hieß es aus dem Schulministerium. Die Schulen machten
Angebote machen, um die unterrichtsfreie Zeit sinnvoll zu nutzen. Bei
den bis zum Beginn der Osterferien bereitgestellten Materialien und
Aufgaben dürfe es sich nicht um Inhalte von Prüfungsrelevanz handeln.