Die Coronavirus-Pandemie und die Sache mit den Zahlen Von Marco Krefting, Jörg Pfeiffer und Benno Schwinghammer, dpa

«Die Kurve abflachen», «die Ausbreitung bremsen», «dem Virus was

entgegensetzen» - Parolen im Kampf gegen die Corona-Pandemie. Um
Erfolge oder Misserfolge zu messen, braucht man Zahlen. Die sind
manchmal tückisch.

Jena/Baltimore (dpa) - Eine der wohl meist zitierten Universitäten
dieser Tage ist die Johns Hopkins University. Sie hat, was alle
begehren: Zahlen zur Coronavirus-Pandemie. Weltweit und quasi dauernd
aktualisiert, grafisch aufbereitet. Selbst für Deutschland werden
eher Zahlen der privaten Uni aus Baltimore im US-Bundesstaat Maryland
genommen als von der hiesigen Bundesoberbehörde für
Infektionskrankheiten, dem Robert Koch-Institut (RKI).

«Zahlen sind scheinbar objektiv und man glaubt ihnen eher», erläutert

André Scherag vom Institut für Medizinische Statistik, Informatik und
Datenwissenschaften der Universität Jena. «Sie suggerieren eine
Sicherheit. Das ist ja das, was man im Moment gerne hätte.» Doch die
derzeit verfügbaren Zahlen haben so ihre Tücken.

Das föderale System der Bundesrepublik bringt es mit sich, dass in
den Bundesländern unterschiedliche Behörden die Daten erfassen,
bündeln und zu unterschiedlichen Zeiten veröffentlichen. So sind die
ersten in der Regel die örtlichen Gesundheitsämter. Sie übermitteln

ihre Daten an die Landesgesundheitsämter. Je nachdem, wer hier wann
mit den Zahlen an die Öffentlichkeit geht, können die Daten von auß
en
betrachtet schon dann nicht mehr übereinstimmen.

Das RKI sammelt die Zahlen aus den Ländern - und hinkt somit schon
automatisch mit der Veröffentlichung hinterher. Das wurde etwa am
Wochenende deutlich, als manche schon einen abflachenden Verlauf der
Neuinfektionen bejubelten. Das RKI verwies aber auf den Zeitverzug:
«Am aktuellen Wochenende wurden nicht aus allen Ämtern Daten
übermittelt, so dass der hier berichtete Anstieg der Fallzahlen nicht
dem tatsächlichen Anstieg der Fallzahlen entspricht. Die Daten werden
am Montag nachübermittelt und ab Dienstag auch in dieser Statistik
verfügbar sein.» Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) wiederum
bekommt die Angaben von den nationalen Behörden - also noch später.

Nun gibt es verschiedene Stellen, die selbst Daten überregional
erheben. Die Deutsche Presse-Agentur (dpa) beispielsweise versucht,
schneller als das RKI eine deutschlandweite Übersicht zu
bekommen. Dafür summiert sie die Angaben von den Landesbehörden. Weil

diese zu unterschiedlichen Zeiten ihre Datensätze aktualisieren,
berichtet die dpa mehrmals täglich über den dann aktuellen Stand.

Die Johns Hopkins University wiederum gibt als Quelle ihrer deutschen
Zahlen die niederländische Nachrichtenagentur BNO News in Tilburg an,
die sich auf Zahlen der «Berliner Morgenpost» bezieht. Marie-Louise
Timcke, die das Interaktiv-Team der Funke Mediengruppe leitet, zu der
die «Morgenpost» gehört, hat zwar keinen direkten Kontakt zur Uni -
aber durchaus schon bemerkt: «Immer wenn wir manuell neue Zahlen
eintragen, haben die irgendwann die gleichen.» Auch die «Morgenpost»

nutzt laut Timcke die Zahlen der Landesgesundheitsämter.

Über den Umweg Tilburg und Baltimore landen die Daten dann in den
deutschen Nachrichten mit Quelle Johns Hopkins. Doch auch wenn die
«Morgenpost» dann nicht genannt wird, sagt Timcke: «Irgendwie finde
ich das auch total cool, das ist wie eine Art Kollaboration: Wir
nutzen deren Weltdaten, und sie dafür unsere Daten zu Deutschland.»

Forscher Scherag warnt aber vor Ländervergleichen: Während in
Deutschland inzwischen eher breit auf Sars-CoV-2 getestet werde,
werde in Italien aufgrund des akuten Drucks nur sehr selektiv
getestet, oder es mangele an Testdurchführungen wie in den USA. Für
das eigene Land unter konstanten Bedingungen lasse sich die
Entwicklung aber dennoch relativ gut ablesen. «In der Regel kann man
Trends innerhalb einer Region gut erkennen.» Hinzu komme allerdings
eine hohe Dunkelziffer von Infizierten, die auf Basis einer aktuellen
chinesischen Studie auf das Zehnfache der vorliegenden Zahlen
geschätzt werden müsse.

Doch abgesehen von den zeitlichen Abständen und der Dunkelziffer
stecken die Tücken im Detail: Nehmen wir ein Praxisbeispiel von vor
ein paar Tagen, als zwei Corona-Patienten starben. Eine Quelle
berichtete da von zwei Toten im Krankenhaus im oberfränkischen Selb -
korrekt. Eine andere Quelle berichtete von je einem Toten aus den
Landkreisen Wunsiedel im Fichtelgebirge und Tirschenreuth in der
Oberpfalz - was ebenfalls korrekt war. Wer nicht aufpasst
beziehungsweise nachfragt, kommt am Ende auf vier Todesfälle. Oder
gegebenenfalls auch nur auf drei - denn Selb ist die Große Kreisstadt
im Landkreis Wunsiedel im Fichtelgebirge.

Kann man also all die Zahlen nicht für bare Münze nehmen? «Das ist
keine Atomphysik, die wir hier haben», sagt Scherag. Keine Quelle
liefere hundertprozentig genaue Daten. Aber die deutschen Behörden
und die Johns Hopkins University haben hochkonsistente Daten. «Das
hilft uns zu erkennen, ob die Dynamik sich ändert, und Maßnahmen zu
planen», so der Professor. «Und man kann der Bevölkerung aufzeigen,
welchen Effekt die aktuellen Maßnahmen haben. Wir alle hoffen, die
jetzige Entwicklung ähnlich wie in Südkorea auszubremsen.»