Abi-Chaos: Schleswig-Holstein sagt ab - Hessen schreibt weiter Von Jörg Ratzsch, dpa

In der Corona-Krise zeichnet sich an den Schulen in Deutschland ein
großes Durcheinander ab. Während in Hessen und Rheinland-Pfalz weiter
Abiturprüfungen geschrieben werden, will Schleswig-Holstein als
erstes Bundesland alle Prüfungen absagen.

Berlin (dpa) - Schleswig-Holstein plant als erstes Bundesland eine
Absage aller Schulabschluss-Prüfungen einschließlich des Abiturs in
diesem Schuljahr. Sie halte diese Entscheidung in der derzeitigen
Situation für geboten, sagte Bildungsministerin Karin Prien (CDU) am
Dienstag. Die Schüler im Norden sollen nach ihren Plänen zum Ende des
Schuljahrs stattdessen Abschlusszeugnisse auf Basis bisheriger Noten
erhalten.

Andere Bundesländer hatten ihre Prüfungen zunächst auf nach Ostern
oder in den Mai verschoben. Im krassen Gegensatz dazu stehen Hessen
und Rheinland-Pfalz, wo am Dienstag, wie geplant weiterhin
Abiturprüfungen stattfanden. Das hessische Kultusministerium teilte
auf Nachfrage mit: «Die Abiturientinnen und Abiturienten in Hessen
haben sich bereits viele Wochen und zum Teil Monate auf die Prüfungen
vorbereitet. Diesen Schülerinnen und Schülern wollen wir die
Teilnahme ermöglichen und haben uns deshalb entschieden, die
schriftlichen Abschlussprüfungen in der vergangenen Woche beginnen zu
lassen.» Am Dienstag fanden Prüfungen in Latein und Spanisch statt.
Am Mittwoch steht Mathe auf dem Plan.

Hessen sieht keinen Konflikt mit den strengen Kontaktsperren, die die
Ministerpräsidenten der Länder und Bundeskanzlerin Angela Merkel
(CDU) am Wochenende vereinbart hatten, und verweist auf eine Passage
in den von Merkel und den Regierungschefs beschlossenen Leitlinien,
wo es heißt: «Der Weg zur Arbeit, zur Notbetreuung, Einkäufe,
Arztbesuche, Teilnahme an Sitzungen, erforderlichen Terminen und
Prüfungen, Hilfe für andere oder individueller Sport und Bewegung an
der frischen Luft sowie andere notwendige Tätigkeiten bleiben
selbstverständlich weiter möglich.» Die Prüfungen in Hessen laufen

unter verschärften Hygienebedingungen. Die Schulen seien angewiesen,
die Prüfungsgruppen klein und die Abstände zwischen den Prüflingen
groß zu halten.

Auch in Rheinland-Pfalz laufen die Abiturprüfungen weiter. Einen Tag
vor Abschluss der mündlichen Prüfungen sprach das Bildungsministerium
in Mainz am Dienstag von einem sehr guten Verlauf: «Unsere Schulen,
die Lehrkräfte und die Schülerinnen und Schüler haben schnell und
flexibel reagiert und unter besonderen Bedingungen die
Abiturprüfungen stattfinden lassen.» In Rheinland-Pfalz haben rund
15 000 Schülerinnen und Schüler in dieser und der vergangenen Woche
ihre mündlichen Abi-Prüfungen absolviert, die schriftlichen Prüfung
en
fanden schon im Januar statt.

Der Grund für das unterschiedliche Vorgehen liegt im
Föderalismus: Für Bildung und Schulen ist jedes Bundesland selbst
zuständig. Über Gremien wie die Kultusministerkonferenz der Länder
(KMK) versucht man, sich soweit es geht abzustimmen. In der
Corona-Krise wird nun offensichtlich, dass das nicht oder nur
schlecht funktioniert.

Der Präsident des Deutschen Lehrerverbands Heinz-Peter Meidinger
sagte der Deutschen Presse-Agentur, der jüngste Beschluss der KMK
angesichts der Schulschließungen, «sich gegenseitig das Abi
anzuerkennen, egal wie es zustande gekommen ist», habe den Keim dafür
gelegt, dass nun jedes Bundesland in der Corona-Krise beim Abitur
mache, was es wolle.

Grundsätzlich hält die Vorsitzende der Gymnasiallehrer-Vertretung
Deutscher Philologenverband, Susanne Lin-Klitzing, die Vergabe eines
Abiturzeugnisses für möglich, wenn Prüfungen ausfallen. Zwei Drittel

der Abiturnote seien bereits durch die Leistungen in den Kursen
erbracht, sagte sie dem Redaktionsnetzwerk Deutschland
(RND/Dienstag). Für das letzte Drittel brauche man nicht zwingend die
Abiturprüfungen. Möglich sei, diese Note auch aus vorherigen
Klausurleistungen in den Prüfungsfächern zu berechnen. Ähnlich
äußerte sich auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW).

Lehrerverbandspräsident Meidinger warnt bei einem solchen Szenario
allerdings vor einer Ungleichbehandlung. So könnten beispielsweise
Schüler in Ländern, wo Prüfungen ausfallen, im Gegensatz zu denen, wo

sie stattfinden, benachteiligt sein, weil sie sich intensiv aufs
Abitur vorbereitet und auf eine Notenverbesserung im Abi gesetzt
haben. Prüfungen sollten seiner Ansicht nach stattfinden, auch wenn
Schulen weiter geschlossen bleiben. Bei den Prüfungen müsse dann auf
größtmöglichen Infektionsschutz geachtet werden.

Die Kieler Bildungsministerin Karin Prien kündigte an, sich für eine
Absage der Prüfungen auch in anderen Bundesländern stark zu machen.
Sie werde in der Kultusministerkonferenz vorschlagen, «dass wir keine
Abiturprüfungen mehr abnehmen, sondern das Abitur und seine Note
anhand der bisher erbrachten Leistungen bewerten», sagte sie am
Dienstag.

Der Vorsitzende des Bildungsausschusses des Bundestags, Ernst Dieter
Rossmann (SPD), forderte die Länder zu einem einheitlichen Vorgehen
auf: «Je mehr klare Verabredungen getroffen werden können, umso
besser», sagte er der Deutschen Presse-Agentur. «Es darf für diesen
Abschlussjahrgang an den Schulen keinen Fadenriss und kein verlorenes
Jahr geben, wenn es dann nach der Sommerpause in die Ausbildung oder
ins Studium gehen soll. Das dürfen und können wir uns in Deutschland
auch sozial und wirtschaftlich nicht leisten.»