Mediziner Bhakdi kritisiert Corona-Maßnahmen - was steckt dahinter?

Berlin (dpa) - Kontaktsperren und Ausgangsbeschränkungen wegen des
neuartigen Coronavirus halten manche für überzogen. Der 2012
emeritierte Mikrobiologie-Professor Sucharit Bhakdi etwa nennt sie
sinnlos, die Pandemie sei nicht sonderlich gefährlich.

BEHAUPTUNG: «Ich finde sie grotesk, überbordend und direkt
gefährlich», sagt Bhakdi mit Blick auf staatliche Maßnahmen zur
Eindämmung des Coronavirus. Er meint, Sars-CoV-2 sei «nicht
grundsätzlich» gefährlicher als andere Erreger der Virus-Familie. Von

10 000 Infizierten seien «lediglich 50 bis 60» erkrankt. «99 Prozent

der Menschen haben keine oder nur leichte Symptome.»

BEWERTUNG: Der Mikrobiologe setzt den Anteil der schwer
Covid-19-Erkrankten deutlich zu niedrig an. Zudem missachtet er das
exponentielle Wachstum bei den Neuinfektionen.

FAKTEN: In seinem Youtube-Video vom 19. März, das in den
darauffolgenden fünf Tagen mehr als 400 000 Mal aufgerufen wurde,
erklärt Bhakdi anhand der Corona-Fälle in Deutschland, warum das
Virus vermeintlich ungefährlich sei. «99 Prozent der Menschen haben
keine oder nur leichte Symptome», sagt er. Damit widerspricht er ohne
Angabe von Quellen weltweit übereinstimmenden Forschungsergebnissen.

Immer wieder betonen renommierte Einrichtungen wie etwa das deutsche
Robert Koch-Institut (RKI), dass bei weitem nicht jeder mit dem Virus
Sars-CoV-2 Infizierte Krankheitszeichen aufweist. Bei denjenigen, die
erkranken, zeigen sich demnach bei 80 Prozent milde bis moderate
Symptome. Das geht unter anderem aus einer früheren Analyse der in
der chinesischen Provinz Hubei erfassten Fälle hervor. Bei den
restlichen 20 Prozent kommt es zu schwereren oder gar
lebensbedrohlichen Krankheitsverläufen - von einer Lungenentzündung
mit Atemnot bis zu multiplem Organversagen. Bhakdi legt also einen
viel zu geringen Anteil schwerster Krankheitsverläufe zugrunde.

Richtig in seinem Video ist, dass zum damaligen Stand (Mittwoch, 18.
März) tatsächlich bundesweit etwa 10 000 Coronavirus-Infizierte
registriert wurden, 28 Menschen waren gestorben. Der Mediziner
schließt daraus, jeden Tag sterbe ein Mensch. Warum er die Toten auf
einen Zeitraum von 30 Tagen hochrechnet, obwohl doch die beiden
ersten Todesfälle in Deutschland am 9. März bekannt wurden, erklärt
er nicht.

An der Entwicklung der Corona-Fälle seit Veröffentlichung des Videos
ist zu erkennen, dass in Deutschland täglich mehr als ein an Covid-19
erkrankter Mensch stirbt. Schon am 19. März waren es 16 Tote mehr.
Weitere vier Tage später waren mehr als 115 Todesfälle in Deutschland
bekannt. In Italien - weltweit am schwersten betroffen - sterben
derzeit täglich Hunderte.

Zwar geht auch Bhakdi von einem exponentiellen Anstieg der
Corona-Ausbreitung aus, bleibt aber mit seinem «Horrorszenario» von
einer Million Infizierten weit unter den Prognosen etwa des RKI. Das
Institut warnte jüngst vor bundesweit zehn Millionen
Coronavirus-Infektionen in den kommenden Monaten, wenn die von der
Bundesregierung angeordneten Maßnahmen nicht eingehalten würden.

Weitere Experten gehen sogar davon aus, dass sich 60 bis 70 Prozent
der Bevölkerung mit dem Virus infizieren könnten. Das entspricht bei
gut 83 Millionen Einwohnern in Deutschland etwa 50 bis 58 Millionen
Menschen. Die Hoffnung ist, dass sich die Ausbreitung der Krankheit
aufgrund der drastischen Maßnahmen möglichst langsam vollzieht, um
möglichst wenig Erkrankte gleichzeitig zu haben.