Kretschmann zur Corona-Krise: «Es gilt nach wie vor Alarmstufe Rot»

Das Coronavirus hält das Land weiter in Atem - während das Land den
Atem anhält. Die Krise geht jetzt erst los, warnt der Landesvater.

Stuttgart (dpa/lsw) - Während das öffentliche Leben wegen des
Coronavirus weitgehend still liegt, kämpfen Behörden, Politiker und
Mediziner unermüdlich weiter gegen eine schnelle Ausbreitung des
Erregers. Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) sieht das
Land erst am Anfang der Krise - und räumt ein, das Virus unterschätzt
zu haben. Mit einem milliardenschweren Soforthilfeprogramm will seine
Landesregierung kleine Unternehmen vor der Pleite retten.
Mittlerweile zählt das Land mehr als 6000 infizierte Menschen.

PROGNOSE: Baden-Württemberg steht nach Einschätzung Kretschmanns noch
am Beginn der Corona-Krise. Obwohl man drastische Maßnahmen ergriffen
habe, steige die Zahl der infizierten Menschen weiter. «Es gilt nach
wie vor Alarmstufe Rot.» Das Virus sei eine enorme Herausforderung
für die Gesellschaft - die meisten Menschen hielten sich aber an die
strengen Ausgangsbeschränkungen. Kretschmann (Grüne) räumte in der

Radiosendung SWR1 Leute ein, die Gefahr durch das Virus am Anfang
unterschätzt zu haben.

SOFORTHILFE: Mit einem milliardenschweren Soforthilfeprogramm für
kleine Unternehmen will die Landesregierung eine Pleitewelle
verhindern. «Wir haben einen Rettungsschirm aufgespannt, wie es ihn
in der Geschichte unseres Landes noch nie gab», sagte Kretschmann.
Selbstständige ohne Angestellte und Firmen mit bis zu fünf
Beschäftigten sollen einmalig bis zu 9000 Euro erhalten können, die
sich nicht zurückzahlen müssen. Für Firmen mit bis zu zehn
Beschäftigten gibt es maximal 15 000 Euro, Betriebe mit bis zu 50
Beschäftigten sollen bis zu 30 000 Euro bekommen können.

AUSBREITUNG: Gesundheitsminister Manne Lucha (Grüne) berichtete am
Dienstagnachmittag von mittlerweile 5887 infizierten Menschen in
Baden-Württemberg und von 36 Todesfällen. 415 Menschen würden
stationär behandelt, das seien rund sieben Prozent der Infizierten.
Davon lägen 43 auf Intensivstationen - also rund 0,7 Prozent der
Infizierten. Das Durchschnittsalter der Infizierten liege bei 47
Jahren. Das Alter der Todesfälle im Land rangiert zwischen 59 und 94
Jahren. Das Durchschnittsalter der Verstorbenen liegt bei 84 Jahren.
Bis zum Abend hatte sich die Zahl der Infektionen weiter erhöht, sie
lag zuletzt bei 6043, die Zahl der Toten stieg auf 37.

SCHUTZMASKEN: Baden-Württemberg setze alles dran, Schutzausrüstung zu
bekommen, sagte Kretschmann. Der Automobilhersteller Daimler habe die
Lieferung von 110 000 Schutzmasken zugesagt. 300 000
Operations-Masken kämen aus Frankfurt. Die Kassenärztliche
Vereinigung indes kritisiert, dass der Bund dem Land Mundtücher statt
versprochener Schutzmasken geliefert habe. Es seien 50 000
Schutzmasken für niedergelassene Ärzte zugesagt worden, gekommen
seien aber Mundtücher und davon viel weniger als 50 000, sagte
KV-Sprecher Kai Sonntag. Die üblicherweise bei Operationen genutzten
Tücher säßen aber nicht so fest wie Schutzmasken.

HILFSBEREITSCHAFT: Rund 1000 Ärzte, die derzeit nicht medizinisch
arbeiten, haben in Baden-Württemberg ihre Hilfe angeboten. «Unsere
Mitglieder erkennen den dringenden Bedarf an ärztlicher Arbeitskraft
und wollen dazu beitragen, die gesundheitliche Versorgung zu
stärken», sagte der Präsident der Landesärztekammer, Wolfgang Mille
r.
«Während einige dieser Freiwilligen schon zum Einsatz gekommen sind,
halten sich die meisten für den Eventualfall bereit.» Es handelt sich
zum Beispiel um Ärzte in der Verwaltung, bei Behörden, in der
Pharmaindustrie, in der Elternzeit oder im Ruhestand. Nach Angaben
von Ministerpräsident Kretschmann hätten sich zudem rund 4000
Studenten gemeldet, um in Kliniken auszuhelfen.

KITA-GEBÜHREN: Eltern sollten nach Meinung des Deutschen
Gewerkschaftsbundes von Beiträgen für Kita-Einrichtungen befreit
werden. Die Familien leisteten derzeit Außergewöhnliches, sagte
DGB-Landeschef Martin Kunzmann. «Es ist ihnen nicht zuzumuten, auch
noch für nicht erbrachte Leistungen zu zahlen.» Einige Kommunen im
Land seien diesen Schritt bereits gegangen, andere würden es gerne,
zögerten aber aus finanziellen und rechtlichen Gründen. Entscheidend
sei, dass die Kommunen nicht auf den Kosten sitzen blieben.

FLÜCHTLINGE: In den Erstaufnahmeeinrichtungen in Baden-Württemberg
leben aktuell acht positiv auf das Virus getestete Flüchtlinge - im
Ankunftszentrum Heidelberg und in Sigmaringen. Infektionen beim
Personal sind nach Angaben des Innenministeriums nicht bekannt. Alle
positiv getesteten Personen und ihre Familienmitglieder seien in
Quarantäne gekommen und Kontaktpersonen getrennt untergebracht
worden. Alle Neuankömmlinge würden zudem auf das Virus getestet.

OBDACHLOSE: Obdachlose sollten während der Corona-Krise nach Ansicht
der Liga der freien Wohlfahrtspflege einen Rechtsanspruch auf
Einzelunterbringung haben. «Die Notunterkünfte sind mehr als
ausgelastet durch die Abstandsregelung und zugleich gibt es Platz in
leeren Hotels, Pensionen oder Jugendherbergen», sagte Landeschefin
Ursel Wolfgramm. «Nur die Nutzung solcher Alternativen macht den
effektiven Schutz für diesen Personenkreis möglich.» Die
Sozialpädagogin verlangte auch, Notunterkünfte für den Winter weiter

zu öffnen und auch tagsüber zugänglich zu machen.

HAUSTIERE: Infizierte Menschen können das Virus an ihre Haustiere
weitergeben - aber die Tiere erkranken nicht daran. Dies teilte die
Landesbeauftragte für Tierschutz, Julia Stubenbord, mit. Jetzt sei
auch eine Chance, mehr Zeit mit seinem Haustier zu verbringen.
«Nutzen Sie die Zeit, die Sie jetzt zu Hause verbringen müssen, sich
mit ihrem Haustier zu beschäftigen.»

SUPERMÄRKTE: So mancher Supermarkt bietet Senioren und Menschen mit
Behinderung in der Corona-Krise frühere Öffnungszeiten an. Seit
Montag steht zum Beispiel das Sortiment vom Edeka Fleck im
Stuttgarter Stadtteil Fasanenhof zwischen 7.00 und 8.00 Uhr nur
Rentnern, Rollstuhlfahrern und anderen «Personen mit Handicap» zur
Verfügung. Üblicherweise öffnet der Markt erst um 8.00 Uhr. Andere
Supermarkt-Ketten bieten derlei Aktionen vorerst nicht an.